Wahrheit als Unverborgenheit des Seins

un-verborgenheit / (a-letheia)


Heideggers Abhandlung: „Platons Lehre von der Wahrheit“

von Matthias Flatscher und Anja Weiberg (phaidon.philo.at)

Hervorhebungen galerieBAAL, B.S.

Heideggers Denken unterteilt man gemeinhin in eine Früh- und – nach der sogenannten Kehre – in eine Spätphase. Im ersten Hauptwerk Sein und Zeit (1927) steht vornehmlich die Frage nach dem Sinn von Sein im Vordergrund, die ausgehend von der fundamentalontologischen Analytik des menschlichen Daseins in den Blick genommen wird, und wo vornehmlich der Entwurf und das Seins-Verständnis des menschlichen Daseins im Mittelpunkt stehen. In den dreißiger Jahren löst das seins-geschichtliche Denken diesen noch weitgehend transzendental-horizontalen Ansatz[1] ab, wobei nunmehr nach der Wahrheit als Unverborgenheit des Seins selbst gefragt wird. Die hier zu erörternde Abhandlung Platons Lehre von der Wahrheit, die auf eine Vorlesung[2] von 1931/32 zurückgeht, stammt aus der letzteren Schaffensperiode und wurde erstmals 1942 publiziert. Der Frage nach der Wahrheit als Un-verborgenheit (a-letheia) im Heidegger’schen Verständnis und seiner Auseinandersetzung mit der Tradition soll im Folgenden nachgegangen werden.

Heideggers methodische Vorgangsweise

Die Re-Lektüre klassischer Texte (in diesem Fall das platonische Höhlengleichnis und das damit implizierte Verständnis von “Wahrheit”) hat für Heidegger nichts mit einem bloßen Selbstzweck und rein philosophiehistorischen Interesse zu tun, sondern bestimmt wesentlich unser heutiges – von der Metaphysiktradition überlieferte – Seins-Verständnis, das den alltäglichen Umgang mit dem Seienden wesentlich mit beeinflusst.

Platons Denken folgt dem Wandel des Wesens der Wahrheit, welcher Wandel zur Geschichte der Metaphysik wird, die in Nietzsches Denken ihre unbedingte Vollendung begonnen hat. Platons Lehre von der »Wahrheit«, ist daher nichts Vergangenes. (GA 9, 237)

Um das heutige Seins- bzw. Wahrheitsverständnis in seinen geschichtlichen Zusammenhängen zu verstehen, ist eine Destruktion der philosophiehistorisch relevanten Stationen vonnöten. Destruktion bedeutet für Heidegger nicht ein willkürliches Zerstören des Tradierten, sondern ein behutsames Freilegen der überlieferten Begrifflichkeit und der dahinterstehenden philosophischen Fundamente, um das Gespür für entscheidende Weichenstellungen für unser heutiges Selbstverständnis zu schärfen.[3]

Heideggers Interpretation des platonischen Gleichnisses konzentriert sich auf eine zunächst bloß philologisch erscheinende Analyse der bis dahin in diesem Kontext nicht beachteten Termini alethes bzw. aletheia, die normalerweise stets mit “wahr” bzw. “Wahrheit” übersetzt wurden, und auf die Steigerungsformen alethestera (unverborgener), alethesteron (noch unverborgener) und ta alethestata (das Unverborgenste). Dabei übersetzt er aletheia nicht mit Wahrheit, sondern mit Unverborgenheit und zieht daraus wichtige inhaltliche Konsequenzen.

Was versteht Heidegger unter Wahrheit, was unter Unverborgenheit?

Der Wahrheitsbegriff in der Tradition und Heideggers Neuinterpretation
a) Traditionelle Bestimmung von Wahrheit

Seit Aristoteles wird die Wahrheit durch folgende zwei Punkte definiert:

1.) Der Ort der Wahrheit ist die Aussage bzw. das Urteil (Urteils- oder Satzwahrheit); denn nur im Urteil (Prädikation) ist es möglich, einem Subjekt (im Akt von diairesis und synthesis) ein Prädikat zu- oder abzusprechen.

Erst eine Aussage – z.B. “Die Lampe brennt.” – kann verifiziert oder falsifiziert werden, da weder die “Lampe” noch “brennen” für sich genommen wahr (richtig) oder falsch sein können.

2.) Das Wesen der Wahrheit liegt in der (richtigen) Übereinstimmung (omoiosis, adaequatio) des Intellekts mit seinem Gegenstand.[4] Die Prädikation muss sich in einer veritativen Beziehung am Worüber der Aussage (Gegenstand) ausweisen lassen.[5]

Heideggers Einwand: In der traditionellen Wahrheitsauffassung wird die Dimension der Unverborgenheit nicht mehr bedacht; bevor ich jedoch einem Seienden etwas zu- oder absprechen kann, muss es zuvor schon entdeckt, d.h. unverborgen sein:

Wahrheit als Richtigkeit der Aussage ist gar nicht möglich ohne Wahrheit als Unverborgenheit des Seienden. Denn das, wonach die Aussage sich richten muss, um richtig werden zu können, muss zuvor schon unverborgen sein. (GA 34, 34) Ursprünglich wahr, d.h. unverborgen, ist gerade nicht die Aussage über ein Seiendes, sondern das Seiende selbst, – ein Ding, eine Sache. Ein Seiendes ist wahr, griechisch verstanden, wenn es sich selbst als das und in dem zeigt, was es ist. (GA 34, 118)

b) Heideggers Verständnis von Wahrheit als aletheia (Unverborgenheit)

Heidegger weist auf ein Fundierungsverhältnis zwischen Wahrheit als Richtigkeit und Wahrheit als aletheia (wörtlich übersetzt: Unverborgenheit) hin.

Wenn wir aletheia statt mit »Wahrheit« durch »Unverborgenheit« übersetzen, dann ist diese Übersetzung nicht nur »wörtlicher«, sondern sie enthält die Weisung, den gewohnten Begriff der Wahrheit im Sinne der Richtigkeit der Aussage um- und zurückzudenken in jenes noch Unbegriffene der Entborgenheit [herv., MF] und der Entbergung des Seienden. (GA 9, 188)

Dieser Umschlag findet nach Heidegger philosophiegeschichtlich bei Platon durch den Vorrang der idea vor die aletheia statt: dadurch wird nicht mehr das Heraustreten aus der Verborgenheit in die Unverborgenheit mitbedacht, sondern man orientiert sich an der beständigen Anwesenheit und am reinen Scheinen der Idee.

Die Bedeutung von Sein im Sinne von Anwesenheit ist der Grund dafür, daß aletheia (Unverborgenheit) sich abschleift zum bloßen Vorhandensein (Nicht-weg) und entsprechend die Verborgenheit zum bloßen Wegsein. (GA 34, 143) Die idea ist das reine Scheinen […]. Die »Idee« läßt nicht erst noch ein Anderes (hinter ihr) »erscheinen« […]. (GA 9, 225)

Der Zugang zu den Ideen wird nun durch das (menschliche) Sehen hergestellt (im Laufe der Metaphysikgeschichte gibt es dabei eine starke Akzentverschiebung in Richtung Subjektivismus); mit dieser Relation und der damit einhergehenden “Richtigkeit des Blickes” (orthotes) wird das Unverborgensein des Phänomens und die Unverborgenheit als solche nicht mehr entsprechend mitbedacht.

Als Unverborgenheit ist sie [die Wahrheit, MF] noch ein Grundzug des Seienden selbst. Als Richtigkeit des »Blickes« aber wird sie zur Auszeichnung des menschlichen Verhaltens zum Seienden. (GA 9, 231)

Heidegger betont mit dem Terminus a-letheia, dass das Unverborgene der Verborgenheit abgerungen werden muss; das Heraustreten aus der Verborgenheit in die Unverborgenheit ist jedoch nicht durch den Menschen bestimmbar oder vergegenständlichbar, sondern das Sein des Seienden spricht sich dem Menschen zu (Heidegger nennt dies Unverborgenheit, Lichtung oder Offenheit des Seins).

Heidegger fundiert somit die Urteilswahrheit in eine mehrfach gegliederte Offenheit: offenliegen muss nicht nur der Gegenstand der Aussage (Offenbarkeit des Seienden), sondern auch der Bereich muss gelichtet sein, den das Sich-richten nach dem Objekt durchmisst. Ebenso muss der Mensch, der diese Offenheit niemals erzeugt, sondern vielmehr immer schon in sie eingelassen ist, für das ihm Entgegegenstehende offen sein (Offenständigkeit).[6]

Heidegger weist somit darauf hin, dass die vielfach-gegliederte Offenheit in der alles eröffnenden Lichtung (Offenheit als solche) des sich zugleich immer auch verbergenden Seins “gründet”.

[1] Heidegger weist nachdrücklich darauf hin, dass der transzendental-horizontale Ansatz nicht einfachhin mit der metaphysisch bestimmten Transzendentalphilosophie gleichzusetzen ist. So schreibt er in einem Brief (3.8.1974) an R. Mauer: “Wenn man meinen Denkversuch in ‚Sein und Zeit‘ als transzendentalphilosophisch bezeichnet, so ist dies nur unter der Voraussetzung richtig, daß man das Transzendentalphilosophische von der Transzendenz (Sorge) als dem Sein des Daseins her denkt, mit der allerdings das Transzendentalphilosophische im überlieferten Sinne, sowohl Kants als auch Husserls, verabschiedet ist. Das Transzendentale in ‚Sein und Zeit‘ hat bereits einen ganz anderen Sinn als üblicherweise, der sich aus dem Verlassen der Subjektivität des Subjekts zugunsten des Daseins ergibt.” (zit. nach: Kettering, Emil: NÄHE. Das Denken Martin Heideggers. Pfullingen: Neske 1987, S. 51)

[2] Heidegger, Martin: Vom Wesen der Wahrheit. Zu Platons Höhlengleichnis und Theätet. Hg. v. Hermann Möhrchen. Frankfurt am Main: Klostermann 21997 (GA 34).

[3] Vgl.: Heidegger versteht Destruktion als “ kritische[n] Abbau der überkommenen und zunächst notwendig zu verwendenden Begriffe auf die Quellen, aus denen sie geschöpft sind. Erst durch die Destruktion kann sich die Ontologie phänomenologisch der Echtheit ihrer Begriffe voll versichern.” (GA 24, 31)

[4] Vgl. Thomas v. Aquin: “Veritas est adaequatio rei et intellectus” (De ver. I, 1) oder Kant: “Die Namenserklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt […].” (KrV, B 82)

[5] Diese Angleichung zwischen Intellekt und Gegenstand erfährt im Laufe der Philosophiegeschichte eine starke Akzentverschiebung zugunsten des urteilenden Subjekts hin zu einem Anthropozentrismus; beispielsweise im transzendentalphilosophischen Ansatz: “[D]ie Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten” (Kant, KrV B XVI)

[6] “In der Richtigkeit des aussagenden Vorstellens waltet somit eine vierfache Offenheit: 1. des Dinges, 2. des Bereiches zwischen dem Ding und dem Menschen, 3. des Menschen selbst für das Ding, 4. des Menschen zum Menschen.” (GA 45, 19)

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