Das Fremde im Eigenen – Ursprung der Gefühle

Von Bernhard Waldenfels (Bochum) 

Gefühle haben in der Moderne einen schweren Stand. Jeder weiß, dass es sie gibt, doch wie gibt es
sie und wo? Die Bewertung schwankt zwischen Herabsetzung und Überschwang. Wer sich auf das
Gefühl als „sein inwendiges Orakel“ beruft, „tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen“, so Hegel in
der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes: „Das Widermenschliche, das Tierische besteht darin,
im Gefühle stehen zu bleiben und nur durch dieses sich mitteilen zu können.“ Gefühle ja, aber bloß
als unentfalteter, dumpfer und wortloser Anfang. Zur gleichen Zeit stimmt Faust Gretchen
gegenüber, nicht ohne Hintergedanken, das Hohe Lied der Gefühle an: „Nenn’s Glück! Herz! Liebe!
Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist Alles; / Name ist Schall und Rauch, / Umnebelnd
Himmelsglut.“ Wenn Bewertungen so gegensätzlich ausfallen, liegt der Verdacht nahe, es bestehe
eine geheime Komplizenschaft; man verdammt beziehungsweise preist über alle Maßen, was man
vermisst.
In dem Hin und Her von Auf- und Abwertung spiegelt sich die neuzeitliche Subjektivierung der
Gefühle; im Gefühl glaubt jeder nur bei sich selbst zu sein. Diese Verengung von Gefühlen auf das
Empfinden des einzelnen Subjekts bildet das genaue Gegenstück zur Entzauberung des Kosmos,
das heißt zur Reduktion eines sinnvollen Ganzen, in das der Mensch eingebunden ist, auf eine
Naturgesetzen unterworfene Außenwelt. Als Inbegriff erklär- und beherrschbarer Mechanismen ist
die Natur fortan nicht nur sinnfrei, sondern auch gefühlsfrei. Das ewige Schweigen der unendlichen
Räume mag wie bei Blaise Pascal ein Schaudern auslösen, doch dies ist ein bloßes Restgefühl, das
den Betrachter auf sich selbst zurückwirft. Edmund Husserl zeigt in seiner Krisis-Schrift, dass der
Verlust der Eingebundenheit in die kosmische Lebenswelt wettgemacht wird durch die „ergänzende
Abstraktion“ einer psychischen Innenwelt. Zum Bereich der Gefühle gehört nun all das, was sich
nicht als sachliche Eigenschaft oder praktisch als Zweckdienlichkeit verbuchen lässt. In ihrer
elementaren Form sind Gefühle private Zustände eines Subjekts: „Ich habe das Gefühl, dass…“.
Die quasiphysikalische Analyse des Selbst führt zur Annahme atomarer Empfindungsdaten,
„sensationes“ genannt, die nach Anschluss suchen, so dass wir – wie Georg Christoph Lichtenberg
moniert – Gefühle wie „aufgeklebte Schönheitspflästerchen“ behandeln. Gefühle gelten als
irrational, keiner Regel gehorchend, solange sie sich selbst überlassen werden. Descartes’
Trennung von Seele/Geist und Körper hinterlässt eine zweigeteilte Gefühlssphäre, in der geistige,
höhere Gefühle wie Stolz und Trauer niederen, tierischen Gefühlen wie Wollust oder Ekel
gegenübertreten. Auch die Gefühlswelt hat ihren „verfemten Teil“. So büßen die Gefühle allmählich
ihre Weltläufigkeit ein, und es ist ebendiese affektive Weltverarmung, gegen die Hegel mit seinen
Vermittlungen zu Feld zieht. Natürlich gibt es auch Gegenläufiges wie Sternes Sentimental Journey,
wo die Empfindung zum Leitfaden einer überraschungsfreudigen Länderreise wird. Wie so oft treten
Literatur und Kunst als Sachwalter einer schwindenden und Vorboten einer kommenden Sache auf.
Und auch bei einem Autor wie Immanuel Kant suchen die Gefühle ihren Weg in Form eines
verfeinerten Geschmacks, doch dieser steht im Schatten der Natur- und Moralgesetze.

Leib und Körper
Der Leib wird im Unterschied zum bloßen Körper als lebendig und beseelt gedacht. Gabriel
Marcel und Helmut Plessner führten die Differenz von Leib und Körper in ihre philosophischen
Analysen ein, indem sie von einem Leib, der ich bin, und einem Körper, den ich habe,
ausgingen. Maurice Merleau-Ponty markiert diese Differenz im Französischen durch Hinzufügen
von Adjektiven: Le corps vivant, le corps propre und le corps phénoménal bezeichnen dann den
Leib im Unterschied zum Körper. „Leib sein“ und „Körper haben“ bedeuten eine abgründige
Zweideutigkeit unserer Existenz, die in keiner Ganzheit zu versöhnen ist.

Eine solch subjektive Verarmung der Gefühle hat es nicht immer gegeben, und es ist auch nicht
dabei geblieben. Im klassischen Denken ist das, was griechisch „pathos“ oder lateinisch „affectus“,
„affectio“, „emotio“ und „passio“ heißt, vielfältig eingebettet: in die Wahrnehmung, die mit der
Empfindung anhebt; in das Streben, das sich von Angenehmem anziehen, von Unangenehmem
abstoßen lässt; in die Rede, die auf die Stimmungs- und Interessenlage der Zuhörer Rücksicht
nimmt; in den Überschwang der Leidenschaft, in der sich die Welt auf einen einzigen hellen oder
dunklen Punkt zusammenzieht. Der Eros (siehe Erläuterung), in Sophokles’ Tragödie Antigone
besungen als eine unbezwingliche Macht, die „in die Besitztümer einfällt“, ist weit entfernt von
einem Gefühlshaushalt, den der Einzelne verwaltet. Selbst „concordia“ (Eintracht, Einigkeit) und
„consensus“ (Übereinstimmung) haben einen leiblich-sinnlichen Unterton, der sich nicht in
gemeinsamen Zielsetzungen und Regelungen erschöpft. Gleichwohl steht auch in der klassischen
Philosophie das Pathos im Schatten des Logos (der ordnenden und lenkenden Vernunft), vor allem
in der wirkmächtigen Schule der Stoa. Das Pathos ist in sich selbst ein Alogon, das heißt etwas
Irrationales, das sich der Herrschaft des Logos zu beugen hat.
Schon im Umfeld der klassischen deutschen Philosophie, sodann bei Ludwig Feuerbach, Søren
Kierkegaard, Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche als den philosophischen Rebellen des
19. Jahrhunderts und vollends mit den denkerischen Neuansätzen des 20. Jahrhunderts ändert sich
die Sicht der Dinge. Zwar fehlt es bis heute nicht an dem Bestreben, sich im Gefühl eine
esoterische Seelenheimat zu schaffen, fern von den Unbilden einer technisch verengten
Rationalität. Doch überzeugender sind die Versuche, den Gefühlen einen neuen Ort und vielfach
auch einen neuen Namen zu geben. Daran hat die Phänomenologie (siehe Erläuterung) einen
besonderen Anteil.

Phänomenologie
Von Edmund Husserl (1859–1938) entwickelte Lehre von den Wesenserscheinungen der Dinge,
der zufolge Bewusstsein und Wirklichkeit immer schon aufeinander bezogen sind. Die
Wirklichkeit ist nur insofern gegeben, als sie sich einem wahrnehmenden, erfahrenden, sich
erinnernden Bewusstsein zeigt. Bewusstsein gibt es nicht „alleine“ – unabhängig von der
„Wirklichkeit“ oder der „Welt“ –, sondern Bewusstsein ist immer Bewusstsein von etwas.

Edmund Husserl befreit die Gefühle aus ihrem subjektiven Verließ, indem er Vorgänge wie das
Sich-Freuen an etwas oder das Sich-Ärgern über etwas als ein intentionales, das heißt auf
Bedeutungen ausgerichtetes, Fühlen begreift, das an der Sinnerschließung und der Selbstbildung

seinen genuinen (eigenen) Anteil hat. Max Scheler ersetzt die Empfindungsbausteine durch ein
verbal zu bezeichnendes Empfinden, das sich öffnet und verschließt, und Ernst Straus nimmt
diesen Gedanken auf, indem er das Empfinden als ein Geschehen fasst, das weder der Objektivität
noch der Subjektivität angehört, da der Empfindende sich in und mit der Welt empfindet. Bei
Heidegger wandelt sich das Empfinden in die Befindlichkeit des Da-Seins, ein Sich-in-der-Welt-
Befinden, das in Stimmungen wie Furcht, Freude oder Langeweile eine wechselnde Tönung
annimmt. In der französischen Phänomenologie verstärkt sich der leibliche Aspekt (siehe
Erläuterung) der Gefühle, so wenn Jean-Paul Sartre die Magie der Emotionen und die emotionale
Selbstverzauberung hervorhebt und wenn Maurice Merleau-Ponty das Empfinden als einen
originären, vorobjektiven und vorsubjektiven Welt-, Selbst- und Fremdkontakt beschreibt.
Ich selbst fasse den Unter- und Hintergrund, von dem sich alles sinngerichtete und geregelte
Verhalten abhebt, als Pathos oder als Af-fektion, wörtlich: als Antun. Das griechische Wort „Pathos“
bedeutet dreierlei. Es meint zum Ersten ein Widerfahrnis, etwas, das uns zustößt, anrührt, trifft,
nicht ohne unser Zutun, aber über dieses hinaus. Verwandt damit ist die grammatische Form des
Passivs, nur muss dieses als ein Urpassiv verstanden werden, das heißt als eigenständige Form,
nicht als Schwundstufe oder als Umkehrung des Aktivs. Pathos bedeutet zweitens etwas Widriges,
das mit Leiden verbunden ist, aber auch das sprichwörtliche Lernen durch Leiden (pathei mathos)
zulässt. Schließlich bezeichnet Pathos eine Leidenschaft, die uns aus dem Gewohnten herausreißt
wie der platonische Eros (siehe Erläuterung). Das Pathos ist eine Überraschung par excellence. Es
kommt stets zu früh, als dass wir uns dessen versehen könnten, unsere Antwort kommt immer zu
spät, um ganz und gar auf der Höhe der Erfahrung zu sein. Dies bedeutet nicht, dass etwas der
eigenen Erfahrung vorausgeht, wie es sich für einen äußeren Beobachter darstellt, es bedeutet
vielmehr, dass der Erfahrende sich selbst vorausgeht. Erfahrung, die einem Widerfahrnis
entstammt, beginnt nicht bei sich selbst, im Eigenen, sondern anderswo, in der Fremde. Ein Tun
und Reden, das einem Pathos entspringt, ist geprägt durch den Grundzug der Responsivität
(wörtlich: einer „Antwortlichkeit“, die der Verantwortung im Reden und Tun vorausgeht). Daraus
folgt: Ein Pathos habe ich nicht, wie ich Gefühle „habe“, einem Pathos bin ich ausgesetzt. Ferner:
Anders als die Gefühle der Neuzeit ist Pathos kein „Begleitphänomen“, das als „dritte Klasse“ zum
Vorstellen und Wollen hinzutritt, wie Heidegger in Sein und Zeit kritisch vermerkt. Es ist keine
bloße Erfahrungskomponente, vielmehr sitzt es im Herzen der Erfahrung wie die Unruh in der Uhr.
Wer glaubt, er sei „Herr seiner Gefühle“ (eine ausgesprochen männliche Redensart!), vergisst seine
eigene Herkunft.
Ort der pathischen Gefühle sind weder die Dinge noch die Seele oder der Geist; ihr Ort ist der Leib
(siehe Erläuterung), der sich spürt, indem er etwas spürt, und in seiner Weltzugehörigkeit
verletzlich ist. Dieser Leib ist der eines leiblichen Selbst, das sich auf sich bezieht, indem es sich
zugleich sich entzieht – wie der eigene Blick in den Spiegel oder das Echo der eigenen Stimme. Um
ein Spiegelbild als Bild seiner selbst oder ein Echo als Widerhall der eigenen Stimme zu erkennen,
muss ein Selbst aus seiner Selbstbezüglichkeit heraustreten, einen Teil von sich an die Welt
verlieren. Der Selbstentzug bezieht sich auch auf die Materialität unseres Leibkörpers,
einschließlich der Rätselhaftigkeit „meines Gehirns“ mit seinen neuronalen Gefühlszonen wie dem
limbischen System. Ansprechbar, affizierbar sind wir nur, sofern wir nie ganz und gar bei uns selbst
sind. Ohne diese Abgründigkeit unserer selbst, die – wie schon Platon beteuert – an den Wahnsinn
rührt, bliebe nur ein laues Behagen zurück.

Eros, platonischer
(von griechisch eros: Liebe, Verlangen): Eros bezeichnet bei Platon eine Kraft, einen Drang
nach dem Schönen, aber auch nach dem Wahren und Guten. In diesem Streben entfaltet der
Mensch seine Möglichkeiten.

Grundgestalten eines leibhaftigen Pathos finden wir in allen Registern unserer Erfahrung: Schon die
einfachste sinnliche Erfahrung geht über eine bloße Registrierung und Kodierung von Daten und
deren Verarbeitung hinaus. Dem Rot oder Blau, das uns entgegenstrahlt oder auf uns einstürmt,
entspricht ein Rot- oder Blauverhalten. Das heißt, es gibt keine neutrale Farbwahrnehmung; die
Wahrnehmung von Farbe ist immer schon getönt durch wechselnde Formen der Zu- oder
Abwendung, durch gleitende oder stockende Bewegungen, durch schnellere oder langsamere
Rhythmen. Wie schon der Hirnforscher Kurt Goldstein in seinem Werk Der Aufbau des Organismus
unter gleichzeitiger Berufung auf Johann Wolfgang Goethe und Wassily Kandinsky zeigt, berührt
sich die Farbwahrnehmung mit der Farbsymbolik. Wenn wir zwischen warmen und kalten Farben
unterscheiden oder wenn jemand rot wird vor Zorn, gelb vor Neid, so sind dies nicht nur bildliche
Ausdrücke, die rohe Daten mit einem affektiven Lack überziehen. Das Ethische beginnt nicht erst
mit dem rechten Handeln. Es gibt ein Ethos der Sinne, das aus dem Pathos erwächst, bevor die
Regelvorschriften einsetzen.2
Aufmerksamkeit, ohne die es buchstäblich nichts gibt, was nennenswert oder erstrebenswert wäre,
beginnt nicht damit, dass Beobachtungsakte dem Scheinwerfer gleich einen dunklen Raum
ausleuchten, sie beginnt damit, dass uns etwas auffällt oder einfällt, unsere Anteilnahme weckt,
Spannung erzeugt. Jedes Neue hat bis in die Prozesse des Gehirns hinein einen Affektionswert,
keinen bloßen Informationswert. Das Aufmerken, in dem das Auffällige Gestalt annimmt, ist selbst
wiederum eine Art des Antwortens. Um nochmals aus Lichtenbergs Sudelheften zu zitieren: „Wenn
ich bisweilen Kaffee getrunken hatte und daher über alles erschrak, so konnte ich ganz genau
merken, daß ich eher erschrak, ehe ich den Krach hörte; wir hören also noch mit andern
Werkzeugen als mit den Ohren.“
Es gibt Weltgefühle oder Grundbefindlichkeiten, in denen die Ordnung der Welt und unser eigenes
Dasein ins Wanken geraten. Dazu gehören Staunen und Angst, die von alters her zu den
Grundantrieben der Philosophie gezählt werden. Staunen, wie es in Platons Theaitet beschrieben
wird, ist ein Pathos, das uns überfällt, das uns schwindeln macht und unseren ganzen Körper in
Mitleidenschaft zieht. Es ist kein bloßes „Problem“, das es zu lösen gilt. Es lässt sich auch nicht
lernen, sondern höchstens einüben wie der Umgang mit dem Tod. Eine Situation, in der ich mich –
mit Wittgensteins einfachen Worten – „nicht auskenne“, ist nicht mit Unkenntnis und mangelndem
Durchblick zu verwechseln. Wäre es nur das, so könnte man die Philosophie getrost einem „General
Problem Solver“ überlassen. Das winzige „Da stimmt etwas nicht“ hat stets etwas Unheimliches.
Für die Philosophie wie auch für die Künste bedeutet dies, dass sie eine Schwelle überquert und
nicht bloß ihren eigenen Boden bearbeitet wie eine wackere Schulphilosophie oder eine bloß
akademische Kunst.
Erinnerung, die sich inzwischen als Gedächtniskultur eines besonderen Ansehens erfreut, ist
zweifellos auf wiederholbare Strukturen, auf kollektive Gedächtnisorte, auf Zeichen und Rituale angewiesen. Doch diese laufen leer, wenn es nicht etwas gibt, das immer wieder unsere Erinnerung
wachruft. Dieses Mehr, das bloße Erinnerungskapazitäten hinter sich lässt, ist nicht zu denken,
ohne dass etwas uns berührt und sich uns körperlich einprägt. Nietzsches Satz aus der Genealogie
der Moral: „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, wehzutun,
bleibt im Gedächtnis“ beschwört ein pathisches Tiefengeschehen, das sich nie völlig kulturalisieren
und moralisieren lässt. Nicht nur Gedanken, auch Erinnerungen kommen, wenn sie wollen, nicht
wenn wir wollen.

Privatsprache
Sprache, die nicht geteilt und gelehrt werden kann, weil ihre Wörter sich auf etwas beziehen,
das nur dem Sprecher bekannt sein kann, nämlich seine unmittelbaren privaten Erlebnisse. Die
Möglichkeit einer Privatsprache wird vom Hauptstrom der modernen Philosophie unausdrücklich
vorausgesetzt.

Mit dem Gefühlsausdruck betreten wir einen Bereich, wo Eigen- und Fremderfahrung sich
verflechten. Auch der Ausdruck ist freizuhalten von der Spaltung in Körper und Geist, als würde
etwa im Zorn nach außen treten, was im Innern schon vorhanden ist. Wenn Scheler in seiner
Schrift über Wesen und Formen der Sympathie darauf besteht, dass die Zornesröte den Zorn, die
Schamröte die Scham nicht nur anzeigt, sondern diese sich darin realisieren, so verweist dies auf
eine eigentümliche Körpersprache, die auch in Freuds Symptombildung eine wichtige Rolle spielt.
Symptome wie sie in Fehlhandlungen oder Zwangshandlungen als Waschzwang oder als
Einschlafzeremoniell zu Tage treten, bedeuten nicht nur etwas anderes, sondern sie ersetzen eines
durch das andere. Zur pathisch geprägten Körpersprache gehören Elemente wie Tonfall, Tempo
und Rhythmus, die eine präsemantische und präpragmatische Vorsprache bilden, das heißt
Elemente, die der zeichenhaften Bedeutung (Semantik) und der handlungsbestimmenden Absicht
(Pragmatik) vorgelagert sind. Im Ton, der die Musik macht, kommt zum Ausdruck, was uns
anspricht, anregt, aufregt, bevor es in Worte gefasst oder in Taten umgesetzt wird. Hinzu kommt
die Körpersprache, die sich in Mimik, Haltung, Gangart, Kleidung und Körperschmuck artikuliert.
Wittgensteins Demontage der Privatsprache (siehe Erläuterung) verweist nicht zuletzt auf eine
Ausdruckssphäre, in der es Nischen, Winkel, Falten und Spalte gibt, aber kein abgeschirmtes
Interieur und auch kein Leibesreservat, das nichts zuließe als ein reines Selbstgespür.
Die Körpersprache setzt sich fort in einem Körpergespräch. Es beginnt mit dem affektiven,
gefühlsbestimmten Dialog zwischen Kleinkind und mütterlicher Bezugsperson. Vergils „risu
cognoscere matrem“ (das frühkindliche Anlächeln der Mutter), das René Spitz zum Motto seiner
Säuglingsstudien gewählt hat, lässt eine Sphäre der Vertrautheit entstehen – oder eben nicht
entstehen wie im Falle des Hospitalismus; motorische und affektive Momente greifen ursprünglich
ineinander. Dies setzt sich fort im Leben des Erwachsenen. Mit dem Blick des Zuhörers oder der
Zuhörerin, „der uns einen halb ausgedrückten Gedanken schon als begriffen ankündigt“ erinnert
Heinrich von Kleist an die fortwährende Geburt des Sinnes und unserer selbst aus dem Pathos.
Neben vielen anderen Fragen bleibt die nach der Normalisierung der Gefühle und ihrer möglichen
Technisierung. Besteht die Welt der Gefühle nur aus Überraschungen? Dies annehmen hieße, die Empfindung mit der Sensation verwechseln. Die Normalität setzt unweigerlich dort ein, wo
Gefühlsäußerungen sich in wiederholbaren Gestalten, in geregelten Abläufen und in Ritualen
niederschlagen. Wir lernen, im Schmerz die Zähne zusammenzubeißen, der Sympathie freien Lauf
zu lassen, Mitleid zu äußern oder mit der Schadenfreude hinter dem Berg zu halten. Doch dahinter
breitet sich eine Gefühlsskala aus. Dem Kältepol auf der Skala nähern wir uns auf den Wegen der
diplomatischen Gefühlstaktik oder des Gefühlsmanagements. Gehen wir so weit, das menschliche
Verhalten und Erleben zu operationalisieren, so reduziert sich das Begehren des Anderen am Ende
auf einen objektiven Bedarf, wie wenn es am nötigen Öl oder Blutzucker fehlt. Eine
Gefühlsmaschine wie Dieter Dörners EMO kennt Gefühlsausbrüche nur als Ventile, die sich öffnen.
So geht schließlich alles mit rechten Gefühlen zu. Den Wärmepol der Skala bilden Schocks,
Traumatisierungen, Überraschungen jeder Art, die unerwartet und programmwidrig auftreten.
Damit ist nicht ausgeschlossen, dass man sie als funktionssteigernde Stimulanzien einsetzt. Nichts
hindert den Menschen daran, sich in seine Simulationen einzuspinnen. Doch ein fabriziertes Pathos
wäre keines mehr. Wir sollten unterscheiden zwischen einem gebundenen Pathos, das den
Hintergrund unseres gewöhnlichen Verhaltens bildet und so unauffällig auftreten kann wie der
alltägliche Gruß, und einem freigesetzten Pathos, das uns aus den gewohnten Zusammenhängen
herausreißt. Das Pathos selbst wäre dann nur indirekt fassbar, als Abweichung vom Gewohnten, als
Überschuss an Nichtlernbarem in allem Lernbaren, als Fremdes im Eigenen. Werden die pathischen
Überschüsse weg normalisiert, so nähern wir uns dem von Nietzsche warnend beschworenen
„Normalmenschen“, der nur noch Normalgefühle kennt. Der Mensch als „nicht festgestelltes Tier“
würde sich dem Status eines künstlich festgestellten Tiers annähern. Das „Widermenschliche“, das
hierin zum Ausdruck kommt, beruht nicht darauf, dass der Mensch rohen Anfängen verhaftet
bleibt, sondern darauf, dass der Logos sich von dem Pathos abspaltet, dem er seine Schwungkraft
verdankt.

(gekürzte Fassung des Original-Aufsatz: http://www.jp.philo.at)