Der Tod und der Geizhals / Death and the Miser

 

Der Tod und der Geizhals / Death and the Miser
Der Tod und der Geizhals / Death and the Miser

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Hieronymus Bosch, eigentlich Jheronimus van Aken, ’s-Hertogenbosch um 1450 – 1516,
Der Tod und der Geizhals – Death and the Miser (1500 – 10), National Gallery of Art, Washington DC, USA)

Of all fifteenth-century artists, Hieronymus Bosch is the most mysterious. His puzzling, sometimes bizarre imagery has prompted a number of false assertions that he was, for example, the member of a heretical sect, a sexual libertine, or a forerunner of the surrealists. What can be said is that he was a moralist, profoundly pessimistic about man’s inevitable descent into sin and damnation.

In this slender panel, probably a wing from a larger altarpiece, a dying man seems torn between salvation and his own avarice. At the foot of the bed a younger man, possibly the miser at an earlier age, hypocritically throws coins into a chest with one hand as he fingers a rosary with the other. In his last hour, with death literally at the door, the miser still hesitates; will he reach for the demon’s bag of gold or will he follow the angel’s gesture and direct his final thoughts to the crucifix in the window?

Avarice was one of the seven deadly sins and among the final temptations described in the Ars moriendi (Art of Dying), a religious treatise probably written about 1400 and later popularized in printed books. Bosch’s painting is similar to illustrations in these books, but his introduction of ambiguity and suspense is unique.

This panel is thinly painted. In several areas it is possible to see in the underdrawing where Bosch changed his mind about the composition. His thin paint and unblended brushstrokes differ markedly from the enamellike polish of other works in this gallery.

Source: National Gallery of Art

G.W.F. Hegel, Der Mohammedanismus

aus: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Wintersemester 1825/26 , Berliner Kollegien (G.W.F. Hegel, Theorie Werke 12, Ffm. 1973, S. 428-434)

Während auf der einen Seite die europäische Welt sich neu gestaltet, die Völker sich darin festsetzen, um eine nach allen Seiten hin ausgebildete Welt der freien Wirklichkeit hervorzubringen, und ihr Werk damit beginnen, alle Verhältnisse auf eine partikulare Weise zu bestimmen und mit trübem, gebundenem Sinne, was seiner Natur nach allgemein und Regel ist, zu einer Menge zufälliger Abhängigkeiten, was einfacher Grundsatz und Gesetz sein sollte, zu einem verwickelten Zusammenhang zu machen, kurz während das Abendland anfängt, sich in Zufälligkeit, Verwicklung und Partikularität einzuhausen; so mußte die entgegengesetzte Richtung in der Welt zur Integration des Ganzen auftreten, und das geschah in der Revolution des Orients, welche alle Partikularität und Abhängigkeit zerschlug und das Gemüt vollkommen aufklärte und reinigte, indem sie nur den abstrakt Einen zum absoluten Gegenstande und ebenso das reine subjektive Bewußtsein, das Wissen nur dieses Einen zum einzigen Zwecke der Wirklichkeit, – das Verhältnislose zum Verhältnis der Existenz –, machte.

Wir haben schon früher die Natur des orientalischen Prinzips kennen gelernt und gesehen, daß das Höchste desselben nur negativ ist, und daß das Affirmative das Herausfallen in die Natürlichkeit und die reale Knechtschaft des Geistes bedeutet. Nur bei den Juden haben wir bemerkt, daß sich das Prinzip der einfachen Einheit in den Gedanken erhoben hat, denn nur bei diesen ist der Eine, der für den Gedanken ist, verehrt worden. Diese Einheit ist nun in der Reinigung zum abstrakten Geiste geblieben, aber sie ist von der Partikularität, mit der der Jehovahdienst behaftet war, befreit worden. Jehovah war nur der Gott dieses einzelnen Volkes, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, nur mit den Juden hat dieser Gott einen Bund gemacht, nur diesem Volke hat er sich offenbart. Diese Partikularität des Verhältnisses ist im Mohammedanismus abgestreift worden. In dieser geistigen Allgemeinheit, in dieser Reinheit ohne Schranken und ohne Bestimmung hat das Subjekt keinen andern Zweck als die Verwirklichung dieser Allgemeinheit und Reinheit. Allah hat den affirmativen beschränkten Zweck des jüdischen Gottes nicht mehr. Die Verehrung des Einen ist der einzige Endzweck des Mohammedanismus, und die Subjektivität hat nur diese Verehrung als Inhalt der Tätigkeit, sowie die Absicht, dem Einen die Weltlichkeit zu unterwerfen. Dieses Eine hat nun zwar die Bestimmung des Geistes, doch weil die Subjektivität sich in den Gegenstand aufgehen läßt, fällt aus diesem Einen alle konkrete Bestimmung fort, und sie selbst wird weder für sich geistig frei, noch ist ihr Gegenstand selber konkret. Aber der Mohammedanismus ist nicht die indische, nicht die mönchische Versenkung in das Absolute, sondern die Subjektivität ist hier lebendig und unendlich, eine Tätigkeit, welche ins Weltliche tretend dasselbe nur negiert und nur wirksam und vermittelnd auf die Weise ist, daß die reine Verehrung des Einen existieren soll. Der Gegenstand des Mohammedanismus ist rein intellektuell, kein Bild, keine Vorstellung von Allah wird geduldet: Mohammed ist Prophet, aber Mensch und über des Menschen Schwächen nicht erhaben. Die Grundzüge des Mohammedanismus enthalten dies, daß in der Wirklichkeit nichts fest werden kann, sondern daß alles tätig, lebendig in die unendliche Weite der Welt geht, so daß die Verehrung des Einen das einzige Band bleibt, welches alles verbinden soll. In dieser Weite, in dieser Macht verschwinden alle Schranken, aller National- und Kastenunterschied; kein Stamm, kein politisches Recht der Geburt und des Besitzes hat einen Wert, sondern der Mensch nur als Glaubender. Den Einen anzubeten, an ihn zu glauben, zu fasten, das leibliche Gefühl der Besonderheit abzutun, Almosen zu geben, das heißt, sich des partikularen Besitzes zu entschlagen: das sind die einfachen Gebote; das höchste Verdienst aber ist, für den Glauben zu sterben, und wer in der Schlacht dafür umkommt, ist des Paradieses gewiß.

Die mohammedanische Religion nahm ihren Ursprung bei den Arabern: hier ist der Geist ein ganz einfacher, und der Sinn des Formlosen ist hier zu Hause, denn in diesen Wüsten ist nichts, was gebildet werden könnte. Von der Flucht Mohammeds aus Mekka im Jahre 622 beginnt die Zeitrechnung der Mohammedaner. Noch bei Lebzeiten Mohammeds unter seiner eignen Führung und dann besonders nach seinem Tode unter der Leitung seiner Nachfolger haben die Araber diese ungeheuren Eroberungen gemacht. Sie warfen sich zunächst auf Syrien und eroberten den Hauptort Damaskus im Jahre 634; weiter zogen sie dann über den Euphrat und Tigris und kehrten ihre Waffen gegen Persien, das ihnen bald unterlag; in Westen eroberten sie Ägypten, das nördliche Afrika, Spanien und drangen ins südliche Frankreich bis an die Loire, wo sie von Karl Martell bei Tours im Jahre 732 besiegt wurden. So dehnte sich die Herrschaft der Araber im Westen aus, im Osten unterwarfen sie sich, wie gesagt, Persien, Samarkand und den südwestlichen Teil von Kleinasien nacheinander. Diese Eroberungen, wie die Verbreitung der Religion, geschehen mit einer ungemeinen Schnelligkeit. Wer sich zum Islam bekehrte, bekam völlig gleiche Rechte mit allen Muselmännern. Was sich nicht bekehrte, wurde in der ersten Zeit umgebracht; später verfuhren jedoch die Araber milder gegen die Besiegten, so daß diese, wenn sie nicht zum Islam übergehen wollten, nur ein jährliches Kopfgeld zu entrichten hatten. Die Städte, welche sich sogleich ergaben, mußten dem Sieger ein Zehntel alles Besitzes abgeben; die, welche erst genommen werden mußten, ein Fünftel.

Die Abstraktion beherrschte die Mohammedaner: ihr Ziel war, den abstrakten Dienst geltend zu machen, und danach haben sie mit der größten Begeisterung gestrebt. Diese Begeisterung war Fanatismus, das ist eine Begeisterung für ein Abstraktes, für einen abstrakten Gedanken, der negierend sich zum Bestehenden verhält. Der Fanatismus ist wesentlich nur dadurch, daß er verwüstend, zerstörend gegen das Konkrete sich verhält; aber der mohammedanische war zugleich aller Erhabenheit fähig, und diese Erhabenheit ist frei von allen kleinlichen Interessen und mit allen Tugenden der Großmut und Tapferkeit verbunden. La religion et la terreur war hier das Prinzip, wie bei Robespierre la liberté et la terreur. Aber das wirkliche Leben ist dennoch konkret und bringt besondere Zwecke herbei; es kommt durch die Eroberung zu Herrschaft und Reichtum, zu Rechten der Herrscherfamilie, zu einem Bande der Individuen. Aber alles dieses ist nur akzidentell und auf Sand gebaut, es ist heute, und morgen ist es nicht; der Mohammedaner ist bei aller Leidenschaft gleichgültig dagegen und bewegt sich im wilden Glückswechsel. Viele Reiche und Dynastien hat der Mohammedanismus bei seiner Ausbreitung begründet. Auf diesem unendlichen Meere wird es immer weiter, nichts ist fest; was sich kräuselt zur Gestalt, bleibt durchsichtig und ist ebenso zerflossen. Jene Dynastien waren ohne Band einer organischen Festigkeit, die Reiche sind darum nur ausgeartet, die Individuen darin nur verschwunden. Wo aber eine edle Seele sich fixiert, wie die Welle in der Kräuselung des Meeres; da tritt sie in einer Freiheit auf, daß es nichts Edleres, Großmütigeres, Tapferes, Resignierteres gibt. Das Besondere, Bestimmte, was das Individuum ergreift, wird von demselben ganz ergriffen. Während die Europäer eine Menge von Verhältnissen haben und ein Konvolut derselben sind, ist im Mohammedanismus das Individuum nur dieses, und zwar im Superlativ, grausam, listig, tapfer, großmütig im höchsten Grade. Wo Empfindung der Liebe ist, da ist sie ebenso rücksichtslos und Liebe aufs innigste. Der Herrscher, der den Sklaven liebt, verherrlicht den Gegenstand seiner Liebe dadurch, daß er ihm alle Pracht, Macht, Ehre zu Füßen legt und Szepter und Krone vergißt; aber umgekehrt opfert er ihn dann ebenso rücksichtslos wieder auf. Diese rücksichtslose Innigkeit zeigt sich auch in der Glut der Poesie der Araber und Sarazenen. Diese Glut ist die vollkommene Freiheit der Phantasie von allem, so daß sie ganz nur das Leben ihres Gegenstandes und dieser Empfindung ist, daß sie keine Selbstsucht und Eigenheit für sich behält.

Nie hat die Begeisterung als solche größere Taten vollbracht. Individuen können sich für das Hohe in vielerlei Gestalten begeistern; auch die Begeisterung eines Volkes für seine Unabhängigkeit hat noch ein bestimmtes Ziel; aber die abstrakte, darum allumfassende, durch nichts aufgehaltene und nirgend sich begrenzende, gar nichts bedürfende Begeisterung ist die des mohammedanischen Orients.

So schnell die Araber ihre Eroberungen gemacht hatten, so schnell erreichten bei ihnen auch die Künste und Wissenschaften ihre höchste Blüte. Wir sehen diese Eroberer zuerst alles, was die Kunst und Wissenschaft angeht, zerstören: Omar soll die herrliche alexandrinische Bibliothek zerstört haben. Entweder enthalten diese Bücher, sagte er, was im Koran steht, oder ihr Inhalt ist ein andrer, in beiden Fällen sind sie überflüssig. Bald darauf aber lassen es sich die Araber angelegen sein, die Künste und Wissenschaften zu heben und überall zu verbreiten. Zur höchsten Blüte kam das Reich unter dem Kalifen al-Mansur und Harun al-Raschid. Große Städte entstanden in allen Teilen des Reiches, wo Handel und Gewerbe blühten, prächtige Paläste wurden erbaut und Schulen eingerichtet, die Gelehrten des Reiches fanden sich am Hofe des Kalifen zusammen, und es glänzte der Hof nicht bloß durch die äußerliche Pracht der köstlichen Edelsteine, Gerätschaften und Paläste, sondern vorzüglich durch die Blüte der Dichtkunst und aller Wissenschaften. Anfangs behielten die Kalifen auch noch die ganze Einfachheit und Schlichtheit bei, welche den Arabern der Wüste eigen war (besonders wird der Kalif Abubekr in dieser Hinsicht gerühmt) und keinen Unterschied von Stand und Bildung kannte. Der gemeinste Sarazene und das geringste Weib ging den Kalifen wie seinesgleichen an. Die rücksichtslose Naivität bedarf der Bildung nicht; und jeder verhält sich durch die Freiheit seines Geistes zu dem Herrscher als zu seinesgleichen.

Das große Reich der Kalifen hat nicht lange bestanden, denn auf dem Boden der Allgemeinheit ist nichts fest. Das große arabische Reich ist fast um dieselbe Zeit zerfallen als das fränkische: Throne wurden durch Sklaven und neu hereinbrechende Völker, die Seldschucken und Mongolen, gestürzt und neue Reiche gegründet, neue Dynastien auf den Thron gehoben. Den Osmanen ist es endlich gelungen, eine feste Herrschaft aufzustellen, und zwar dadurch, daß sie sich in den Janitscharen einen festen Mittelpunkt bildeten. Nachdem der Fanatismus sich abgekühlt hatte, war kein sittliches Prinzip in den Gemütern geblieben. Im Kampfe mit den Sarazenen hatte sich die europäische Tapferkeit zum schönen, edlen Rittertum idealisiert; Wissenschaft und Kenntnisse, insbesondere der Philosophie, sind von den Arabern ins Abendland gekommen; eine edle Poesie und freie Phantasie ist bei den Germanen im Orient angezündet worden, und so hat sich auch Goethe an das Morgenland gewandt und in seinem Diwan eine Perlenschnur geliefert, die an Innigkeit und Glückseligkeit der Phantasie alles übertrifft. – Der Orient selbst aber ist, nachdem die Begeisterung allmählich geschwunden war, in die größte Lasterhaftigkeit versunken, die häßlichsten Leidenschaften wurden herrschend, und da der sinnliche Genuß schon in der ersten Gestaltung der mohammedanischen Lehre selbst liegt und als Belohnung im Paradiese aufgestellt wird, so trat nun derselbe an die Stelle des Fanatismus. Gegenwärtig nach Asien und Afrika zurückgedrängt und nur in einem Winkel Europas durch die Eifersucht der christlichen Mächte geduldet, ist der Islam schon längst von dem Boden der Weltgeschichte verschwunden und in orientalische Gemächlichkeit und Ruhe zurückgetreten.

In: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam, Leipzig, 1924

Mammon

Mammon – Posted by mammon TheFormOfMoney, San Francisco, California.

MammonPortrait
Mammon by George Frederick Watts, 1884

This is one of a series of paintings in which Watts questioned the purpose of modern commerce and its dehumanizing effects on the nation. Mammon, the God of money, is represented as a tyrant on a throne, nursing money bags on his lap. Two naked youths are crushed by the power of this monster. Watts subtitled the picture „Dedicated to his Worshippers“.  No one can serve two masters. He will either hate one and love the other, or be devoted to one and despise the other. You cannot serve God and mammon. [Matthew 6:24] Those who set out to serve both God and Mammon soon discover that there is no God. [Logan P. Smith] Mammon – – god of the world’s leading religion. [Ambrose Bierce] Let us be frank in acknowledgement of the truth that many amongst us have made obeisance to Mammon, that the profits of speculation, the easy road without toil, have lured us from the old barricades. To return to higher standard of living we must abandon the false prophets and seek new leaders of our own choosing. [Franklin Roosevelt] And the devil of Avarice and Riches is called Mammon [Malleus Maleficarum – The Witches Hammer – by Heinrich Kramer and James Sprenger, 1489]

MammonWorship
The Worship of Mammon – Evelyn de Morgan (British, 1850-1919)

And so here we are, the richest of the rich, all sub-species of American Mammon, each one, no doubt, wondering from time to time, how to become great – since we are already rich. [The Devil Tree by Jerzy Kosinski, 1973]

Peasants accused one another of accepting help from various demons, such as Lucifer, Cadaver,Mammon, Exterminator, and many others. The Evil Ones surely picked only those who had already displayed a sufficient supply of inner hatred and maliciousness. [The Painted Bird by Jerzy Kosinski, 1965]

MammonNation
Mammon Nation

 

 

 

 

 

 

Louis-Ferdinand Céline – Voyage au bout de la nuit / Reise bis ans Ende der Nacht

(ein Text von Inadäquat, Christina Zitzen)

In seiner “Reise bis ans Ende der Nacht” setzt Louis-Ferdinand Céline Station nach Station, Aggregat für Aggregat, Soziotop für Soziotop seinen romanesken Anschauungsunterricht in Sachen “Zertrümmerung des abendländischen Subjekts” fort. Unter den jeweils herrschenden Verhältnissen, so der Chronist, ist das angeblich nach Gottes Ebenbild geschaffene Wesen fähig, sämtliche Gestalten anzunehmen: Vom Wurm und Parasiten bis hin zum pur Mechanischen.
Hatte ein ästhetizistisches Ich vom Schlage Rainer Maria Rilkes angesichts des “Chocs” urbaner Massemenschen und Menschenmassen noch gefleht …
O Herr, gib jedem seinen eignen Tod.
Das Sterben, das aus jenem Leben geht,
darin er Liebe hatte, Sinn und Not

… streicht Céline solche humanistischen Hoffnungen mit jeder Szene, Folge, Episode erneut durch. Dass dies viel weniger zynisch geschieht, als dies gemeinhin angenommen wird , ließe sich an unzähligen Zitaten aus Der Reise bis ans Ende der Nacht belegen: Denn es ist ein Teil der Radikalität dieses Romans , dass die Idee des “eigenen” Todes gegen alle Evidenz und gegen alle Verhältnisse das eigentliche Movens ist , welches den Chronisten in sämtlichen realen und sozialen Sümpfen am Leben erhält .

documentario di Giano Accame:

Verdun-1916

(von Frauke Hiegenberg)

„In Verdun hat es nie aufgehört. Es gab jeden Tag Kämpfe, jeden Tag“, erinnert sich der 106 Jahre alte französische Veteran Marcel Savonet.
Verdun, dieser Name ist noch heute der Inbegriff für das Grauen des Ersten Weltkriegs. Die bittere Bilanz der Kämpfe, die sich über mehr als ein halbes Jahr hinziehen: 750.000 Tote und Verwundete, junge Soldaten, die von ihren Generälen in die erste Materialschlacht der Geschichte geschickt werden.
Als General Erich von Falkenhayn am 21. Februar 1916 den Festungsgürtel von Verdun in Lothringen mit 550.000 Soldaten und 1225 Geschützen angreift, will er den Gegner, die französische Armee, „ausbluten“.

Geschichten gegen die Angst / zu Hans Blumenberg

(von Gerald Beyrodt)
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Götter als Wolkenschieber könnten auf unsere Vorfahren eine beruhigende Wirkung gehabt haben. (Stock.XCHNG / Michael Bretherton)

Warum erzählen Menschen Geschichten? Der Philosoph Hans Blumenberg sagt: Um sich gegen die Welt zur Wehr zu setzen. Als die Menschheit entstand, waren die Geschichten lebensnotwendig. Denn als der Mensch oder ein Vorfahr des Menschen den Urwald verließ, war er von Feinden umgeben. Er war nicht schnell und nicht kräftig, konnte nicht so gut flüchten wie andere Tiere und nicht so gut jagen. Obendrein plagten ihn Ängste. Kurzum, der Mensch war ein „Mängelwesen“, wie Blumenberg sagt.
Kulturelle Anpassungen an die Umwelt – zum Beispiel durch Faustkeil und Speer – boten die Möglichkeiten zum Überleben. Eine kulturelle Anpassung ist auch die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen. Denn der Mensch bannt seine Angst vor den Urgewalten der Natur, indem er ihnen Namen gibt.
„Ein Mensch zu sein, heißt Existenzangst zu haben. Am Anfang ist diese Existenzbedrohung oder diese Angst ohne Objekt, das heißt, man hat Angst, aber kein Objekt der Angst. Geschichten zu erzählen, Götter zu haben, Mythen zu haben, bedeutet dann in dieser Hinsicht, Objekte zu schaffen, fiktive Objekte zu schaffen, durch welche diese Angst (gemildert) werden kann.“

Wenn etwa das Meer bedrohlich tobt, dann erzählen die Menschen Geschichten vom Gott des Meeres, der wütend sei. Der Mensch gibt den Naturgewalten Namen und fühlt sich ihnen nicht mehr schutzlos ausgeliefert. Denn wenn der Gott des Meeres wie ein Mensch wütend sein kann, dann kann man ihn auch wie einen Menschen besänftigen. „Terror“ und „Spiel“ sind Kernbegriffe von Blumenbergs Mythos-Theorie. Am Anfang steht nach Hans Blumenberg der Schrecken. Dieser Schrecken ist so groß, dass es dafür keine Worte gibt. Schon die ersten Mythen sind Widerstand gegen den Schrecken. Jetzt hat der Schrecken Namen: Zeus und Hera, Dionysos und Aphrodite. Die Dichter der Antike und ihre Nachfolger wandeln die Göttergeschichten ab und spielen mit ihnen. Die Geschichte der Mythenbearbeitung ist nach Blumenberg eine Geschichte der Depotenzierung, d.h. von (den Geschichtenerzählern) Homer bis (z.B.) James Joyce wird das Fürchterliche immer zahnloser. Auch Technik und Kultur dienen für Blumenberg dazu, uns von der Welt unabhängiger zu machen, uns die Naturgewalten vom Leib zu halten. Das war schon so, als Faustkeil und Speer erfunden wurden.

Folien / Mensch & Tier

Die anthropologische Differenz: Jaques Derrida, L‘animal que donc je suis:

„Es geht nicht nur darum, zu fragen, ob man das Recht hat, dem Tier dieses oder jenes Vermögen abzusprechen (Sprache, Vernunft, Erfahrung des Todes, Trauer, Kultur, Institution, Technik, Kleidung, Lüge, Vortäuschen des Vortäuschens, Löschung der Spur, Gabe, Lachen, Weinen, Achtung und so weiter – die Liste ist notwendigerweise endlos, und die mächtigste philosophische Tradition, in der wir leben, hat all dies dem, Tier abgesprochen). Es geht auch darum, sich zu fragen, ob, was sich Mensch nennt, das Recht hat, dem Menschen in aller Strenge zu zusprechen, was er dem Tier abspricht, und ob er davon jemals einen reinen, strengen, unteilbaren Begriff als solchen besitzt.“

Messianisches Gastmahl der Gerechten

Die anthropologische Differenz: Giorgio Agamben, Das Offene.

Die Zäsur zwischen Mensch und Tier durchzieht in erster Linie das Innere des Menschen. Deshalb „muss die Frage nach dem Menschen […] neu gestellt werden. In unserer Kultur ist der Mensch immer als Trennung und Vereinigung eines Körpers und einer Seele gedacht worden, eines Lebewesens und eines lógos, eines natürlichen (oder tierischen) und eines übernatürlichen, sozialen oder göttlichen Elements. Wir müssen hingegen lernen, den Menschen als Ergebnis der Entkoppelung dieser zwei Elemente zu denken und nicht das metaphysische Geheimnis der Vereinigung, sondern das praktische und politische der Trennung zu erforschen. Was ist der Mensch, wenn er stets der Ort – und zugleich das Ergebnis – von unablässigen Teilungen und Zäsuren ist?
Diese Teilungen zu untersuchen, sich zu fragen, auf welche Weise der Mensch – im Menschen – vom Nichtmenschen und das Animalische vom Humanen abgetrennt worden ist, drängt mehr, als zu den großen Fragen, den sogenannten menschlichen Werten und Menschenrechten, Stellung zu beziehen.“

Verwandte. Und Andere. Wie wir  von Cord Riechelmann (Auszug, taz, 24.12.2003) ( über: D.H. Lawrence, Deleuze & Guattari, Meyer-Abich, Gaita)

 

„Ich habe es satt, mir von Tieren, die bloß andersartig sind, dauernd sagen zu lassen, dass es so ein Tier nicht gibt. Wenn ich eine Giraffe bin, und die Durchschnittsengländer, die über mich schreiben, nette, manierliche Hunde sind, dann ist klar, dass die Tiere verschieden sind.“

In D. H. Lawrence‘ Zorn ist die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier aufgehoben. Tiere sind sie alle: er selbst, die Giraffe, die Kritiker und die Schoßhündchen. Seine Trennungslinie verläuft zwischen dem wilden Tier und dem possierlich gezähmten Haustier. Was die beiden Formen aber unterscheidet, ist so einfach nicht auszudrücken.

Für Gilles Deleuze und Felix Guattari, die Hunde und Katzen genauso wenig mochten wie Lawrence, sind wilde Tiere – auch wenn sie allein sind – zuerst immer mehrere. Vielheiten oder Mannigfaltigkeiten, denen menschliche Liebkosungen ebenso fremd sind wie menschliche Klassifikationen. Das Tier-Werden vollzieht sich für Deleuze/Guattari immer in der Meute, im Rudel, und hat notwendige Ansteckungen durch die Meute zur Folge. Das hat durchaus dämonische Züge. „Es gibt immer einen Pakt mit dem Dämon, und der Dämon erscheint manchmal als Anführer der Bande, manchmal als Einzelgänger neben der Bande und manchmal als höhere Macht über der Bande.“ Der Dämon kann aber auch in die „Anonymität der kollektiven Aussagen der Bande“ absinken und sich in ihr verlieren. Jedes nicht gezähmte Tier bewegt sich mehr oder weniger zwischen diesen möglichen Positionen. Und wenn Deleuze/Guattari vom Tier-Werden reden, träumen sie von Menschen, die das aushalten.

Mit dem alttestamentlichen Hochmut, dass nur der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sei, der Rest der Natur aber nicht, haben Giorgio Agamben, Klaus Meyer-Abich und Raimund Gaita gebrochen. Dem Tier überlegen fühlen sie sich nicht, und für die Krone der Schöpfung halten sie die Gattung homo sapiens auch nicht. Eher im Gegenteil. Es gebe, schreibt Meyer-Abich, keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass wir etwas Besseres als die anderen Tiere seien: die Evolutionstheorie lehrt es, Verwandte und Verwandte sind Andere wie wir. Für Intelligenz, Werkzeuggebrauch, Sozialverhalten und selbst die Fähigkeit, andere mehr oder weniger klug hereinzulegen, finden sich im Tierreich genügend Beispiele, die die Trennungslinie zwischen Tier und Mensch aufheben.

Aber bei den speziellen Fähigkeiten bestimmter Arten muss man aufpassen. Die Beispiele herausragender Fähigkeiten wie die des Kiefernhähers, der im Herbst 30.000 Samen an 6.000 verschiedenen Orten versteckt und sie im Winter nicht nur wiederfindet, sondern auch noch weiß, welcher Same wo liegt, kann natürlich zu dem Schluss führen, dass es „wahrscheinlich kein Tier gibt, das uns nicht von Natur in seiner Art überlegen wäre“. Der Schluss lässt sich aber leicht umkehren: Gerade in der Unspezialisiertheit des Menschen kann man die Überlegenheit gegenüber den an ihre spezifischen Fähigkeiten gebundenen Tiere sehen. Aber Meyer-Abich will etwa anderes. Er will auf der Basis der neueren Wissenschaft aus dem aus der Position der Überheblichkeit geführten Krieg gegen die Natur und das Tier ausscheren. Dabei idealisiert er die übrige Natur weder als „heile Welt“, noch will er ins Paradies zurück.

Wie man mit „einem ganz fremden Tier“ umgehen kann, dafür sieht Meyer-Abich ein exemplarisches Beispiel in Joseph Beuys‘ New Yorker Aktion, in deren Verlauf Beuys eine Woche mit einem wilden Kojoten in einer Galerie zusammenlebte: „Die Verfolgung des Kojoten durch die Eroberer war für Beuys ein Beispiel dafür, dass der Mensch dazu neigt, seine Minderwertigkeitsgefühle auf ein Hassobjekt oder eine Minderheit abzuladen, ,aber der Geist des Kojoten ist so mächtig, dass der Mensch nicht verstehen kann, was er ist, noch was er in Zukunft für die Menschheit tun kann‘ (Beuys)“.

Was man aber für die Zukunft aus dem Verhältnis zum Tier lernen kann, davon schreibt der australische Philosoph Raimond Gaita in seinem Buch „Der Hund des Philosophen“. Gaita ist auf dem Land aufgewachsen. Und wer auf dem Land aufwächst, bekommt sozusagen eine doppelte Erfahrung mit in die Wiege gelegt: Tiere werden einerseits geliebt, man fühlt mit ihnen; andererseits werden sie der Verwertung zugeführt. Gaitas Vater pflegte schwache und wärmebedürftige Zicklein in der Küche, um sie später „für das eigene Essen, meist jedoch, um die Hunde zu versorgen“, zu schlachten. Zwischen diesen beiden Haltungen bewegt sich Gaitas‘ auch autobiografische Erzählung, in deren Verlauf die ursprünglichen Gewaltverhältnisse nie suspendiert werden. Die Schäferhündin Gipsy tötet die Katze Tosca und hat sich dabei was gedacht? „Ihr ging gar nichts durch den Kopf. Und genau das, nehme ich an, ist ein zentraler Aspekt, was es heißt, ein Tier zu sein.“

Für Gaita bedeutet dieser Satz aber nicht, dass er das Tier abwertet. Er bestreitet auch nicht, dass Tiere eventuell ein Bewusstsein haben. Nur ist es für den tatsächlichen Umgang mit einer Spinne für Gaita unerheblich, ob physiologisch feststeht, dass Spinnen Schmerz empfinden, oder ob sie es nicht tun. Seine These ist, „dass unsere Ethik auf einem Verständnis von Individualität beruht, das selbst unbegründet ist und weder durch Vernunft noch Verdienst gerechtfertigt, das hervorgegangen ist aus unserer Bezogenheit auf unsere Mitmenschen und vertieft wird durch die Liebe“. Und was es für das menschliche Handeln bedeuten kann, ein solches Verständnis auf die unbelebte Natur und Tierwelt auszudehnen, das versucht der „Hund des Philosophen“ zu durchdenken, ohne in Gefühlsduselei oder Tierrechtsdebatten abzugleiten.

Von den Rechten der Bäume, der Spinnen und auch der Menschen will Gaita nicht sprechen. Und darin trifft er sich mit Giorgio Agamben. Wenn die Zäsur zwischen Mensch und Tier in erster Linie das Innere des Menschen selbst durchzieht, also – platt gesagt – menschengemacht ist und gegen die wissenschaftlichen Befunde nicht mehr aufrechterhalten werden kann, dann muss die Frage nach dem Animalischen und Humanen neu gestellt werden. Denn der Mensch kann nur in der Trennung vom Animalischen festgestellt werden. „Vielleicht sind nicht nur Theologie und Philosophie, sondern auch Politik, Ethik und Jurisprudenz in dieser Trennung zwischen Mensch und Tier aufgespannt und aufgehoben“, schreibt Agamben.

Agamben denkt die Aufhebung der Differenz von Animalischem und Humanem vom letzten Tag her. Vom Messianischen Gastmahl der Gerechten, die auf einer Miniatur einer hebräischen Bibel des 13. Jahrhunderts eindeutig mit tierischem Antlitz dargestellt sind. Die am Ende der Zeiten wieder zusammengeführten Menschen und Tiere in der Illustration könnten auch auf die Versöhnung des Menschen mit seiner tierischen Natur und eine neue Form der Beziehungen zwischen Menschen und Tieren am letzten Tag hindeuten. Agamben geht dabei die Vorstellungen des 20. Jahrhunderts vom Ende der Geschichte und damit des Menschen durch. Und er übersieht dabei nie den Schrecken, den die Enthumanisierung des Denkens auch hervorgebracht hat. Der Schock der Konzentrationslager ist auf jeder Seite anwesend.

Die Aufgabe der anthropozentrischen Perspektive in den Wissenschaften geschieht nämlich auf doppeltem Grund. Wenn Jacob von Uexküll an die Stelle einer einheitlich hierachisch geordneten Welt eine unendliche Vielzahl von Wahrnehmungswelten setzt, die alle gleichermaßen vollkommen und in einer gigantischen Partitur miteinander verbunden sind, gibt es mindestens zwei Ausgänge. Von Uexkülls Zecke führt genauso zu Martin Heidegger, der die Abtrennung des Menschen von anderen Lebewesen zum Kern seiner Philosophie gemacht hat, wie zu Deleuze und Guattari, die das Gegenteil wollen. Man kann daraus einen Hinweis Agambens lesen, dass er die Trennung von Animalischem und Humanem philosophisch für nicht aufhebbar hält. Die Trennung bleibt. „Die Gerechten stellen […] keine neue Deklination im Verhältnis zwischen Tier und Mensch dar, als vielmehr die Figur der großen Unwissenheit, die beide außerhalb des Seins lässt, gerettet in ihrer eigentlichen Unrettbarkeit.“

Cord Riechelmann ist Biologe, Philosoph und Publizist. 
Literatur: Gilles Deleuze und Felix Guattari: „Tausend Plateaus“. Merve Verlag, Berlin 1992; Giorgio Agamben: „Das Offene. Der Mensch und das Tier“. edition suhrkamp, Frankfurt/M. 2003; Raimund Gaita: „Der Hund des Philosophen“. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 2003; Klaus Meyer-Abich: „Tiere sind Andere wie wir“, in: „Scheidewege“, Jahrgang 33 – 2003/2004, Baiersbronn