Text zusammengestellt aus: Hartmut Böhme, Natur und Subjekt, Frankfurt am Main 1988.
In der sehr alten Deutungsgeschichte der Melancholie gibt es um 1475 eine dramatische Szene, von der Panofsky/Saxl in ihren bahnbrechenden Forschungen zur „Melencolia“ von Albrecht Dürer berichten [1] : der hermetische Neuplatoniker Marsilio Ficino klagt in einem Brief seinem Freund Giovanni Calvacanti, dass er nicht ein noch aus wisse und verzweifelt sei; dies ginge auf die mächtigen und düsteren Einflüsse des Saturns auf seinen Geist und sein Gefühl zurück. Saturn – das ist hier der maligne Stern, der fernste des Planetensystems, der Gott des Dunklen, Kalten und Schweren; rätselhafte, schwer entzifferbare Gottheit der Zeit; uralter Flurgott oder auch der gestürzte und kastrierte Uranide. Viele, auch widersprüchliche Traditionen fließen in der Semantik des Saturns zusammen. Innerhalb der Astralmedizin ist der Saturn der Regent der schwarzen Galle, der Milz, der kalten, trockenen Erde. Diese Komplexion aus Astrologie, Elementenlehre, Anatomie und Humoralpathologie bildet den Typus des melancholischen Temperaments.
Von der frühmittelalterlichen arabischen Medizin, die ihrerseits auf antiker Medizin und Philosophie aufbaut, wird die astralmedizinische Temperamentenlehre endgültig kodifiziert. Ficino, einer der großen Erneuerer platonischer und plotinischer Philosophie, Hermetiker und Astrologe, aber auch Arzt, kannte diese Traditionen aufs genaueste. Beklagt er sich bitter darüber, dieser dunkelsten aller Mächte unterworfen zu sein, so spricht er als Kenner der avanciertesten zeitgenössischen Wissensbestände – und zugleich als leidendes Subjekt und sich selbst reflektierender Intellektueller: dies ist das Neue, das subjektgeschichtliche Moment in der Historie der Melancholie. Diese Wendung zur subjektiven Erfahrung von Schmerz und Orientierungslosigkeit läßt Ficino die bittere und düstere Seite des Saturns betonen. Darin weist ihn denn auch sein Freund Cavalcanti zurück: dem Saturn verdanke Ficino alles, seine Weisheit und Bildung sowie die einzigartige Fähigkeit, griechische Philosophie und ägyptischen Hermetismus mit der Gegenwart zu vermitteln. Marsilio nimmt in seiner Antwort die bittere Klage über seine saturnische Melancholie zurück und bezieht sich, in radikaler Umwertung, nunmehr auf den locus classicus der melancholia generosa, die pseudoaristotelischen, vermutlich von Theophrast stammenden Problemaa, XXX, I, die mit der später zu selbstverständlicher Behauptung geronnenen Frage anheben: „Aus welchem Grunde sind alle hervorragenden Männer, sei es, dass sie sich in der Philosophie, in der Politik, der Poesie oder den bildenden Künsten ausgezeichnet haben, offenbar Melancholiker . . . ?“ Bald darauf schreibt Ficino seine Diätik des saturnischen Menschen [2] , worin er in klassischer Form alle Argumente für die nobilitierte Melancholie zusammenfasst.
Damit sind beide Seiten des saturnischen Temperaments genannt, die Qual und der Wahnsinn dort, die göttliche Erleuchtung und inständige Forschung hier. Und beide Seiten sind in eine Subjektform eingeschrieben, die des philosophischen und künstlerischen Intellektuellen. Eine der Leistungen Ficinos ist es, dass er die mythologische Struktur Saturns, der – wie Panofsky/Saxl herausgearbeitet haben – ein Gott der Extreme, der Polaritäten und Heterogenitäten ist, übersetzt in das, was man die Komplexion des neuzeitlichen Intellektuellen nennen könnte: zerrissenes Subjekt zu sein, Wissender mit unglücklichem Bewusstsein, ein Entfremdeter, ein „Ferner“ auf exzentrischer Bahn, nicht in ruhiger Mitte ausbalanciert, sondern bis zum Wahnsinn pendelnd zwischen dunkelster Grübelei und hellster Vision, ein Gratwanderer der schwierigen, unliebsamen und häretischen Wahrheiten, ein gefährdeter Bruder derjenigen, die dem Höllensturz in die Starrnis der Depression oder der Ekstasis irrlichternder Erleuchtungen nicht mehr entrinnen.
200 Jahre später. Der frühaufklärerische Philosoph Christian Thomasius plaziert in seiner Ausübung der Sittenlehre (1696) den Melancholiker in der Skala der vier Temperamente auf die niedrigste Stufe. Melancholische Merkmale – das ist ein Lasterkatalog. Weitere 50 Jahre später: der maßgebliche Philosophiehistoriker des 18. Jahrhunderts, Jacob Bruckner, macht Marsilio Ficino auf eine rüde Weise für den Irrationalismus aller Schwärmer, Hermetiker und Häretiker bis ins I8. Jahrhundert verantwortlich, die melancholische Philosophie wird zum Antipoden schlechthin der Aufklärung.
Die europäische Aufklärung, so hat Hans-Jürgen Schings [3] deutlich gemacht, kann geradezu als Feldzug gegen die Melancholie verstanden werden. Es scheint, als sollte Saturn, der ferne Regent der ingeniösen Melancholie, noch einmal gestürzt werden. Die Autorität der pseudoaristotelischen Tradition wird rigoros gebrochen. Nur so eigenwillige Außenseiter wie Johann Georg Hamann, der eben darum zum Vater der melancholischen Genies im „Sturm und Drang“ wird, wagen es, die Linie Marsilio Ficinos gegen das Unisono der aufgeklärten Geister weiterzudenken. Obwohl die Spur der melancholia generosa in Kunst und Philosophie sich niemals völlig verliert, so sind sich heute linke Aufklärer und konservative Rationalisten in der Verwerfung der Melancholie einig. Die Frage ist, warum gerade die Melancholie so heftig bekämpft wird – und was in der Geschichte die zu rettende Produktivität der Melancholie ausmacht.
Die Negativbewertung der Melancholie beginnt im Mittelalter. Saturn gilt als das Unglücksgestirn. In der christlichen Einfärbung der Temperamentenlehre wird die Melancholie zur Sünde: unter dem Namen „Acedia“ bezeichnet sie die Todsünde der Tücke, der Trauer, des Stumpfsinns und der Herzensträgheit, der Verhärtung gegenüber der Gnade. Es sind dies Revolten gegen die göttliche Schöpfung, deren Schönheit und sinngesättigte Ordnung der Melancholiker zu verneinen scheint. Die bestehende theologische (und damit gesellschaftliche) Ordnung erweist sich beim Melancholiker als wirkungslos.
Er verkörpert das Temperament, an dem die verbindlichen Sinnangebote und Werte der Gesellschaft abprallen. Mit der Hartnäckigkeit seiner schwarzen Gesinnung, seinem ungläubig in die leere Ferne schweifenden Blick, mit der Düsternis seiner Gefühle stört er das Sinn- und Normengefüge der Kultur. Der Melancholiker ist Störenfried, weil er den gesellschaftlichen Konsens stört, er ist Sünder, weil an ihm der göttliche Kosmos zu zerbrechen scheint.
Wir haben in dieser Abwertung der Melancholie einen der großen gesellschaftlichen Abwehrmechanismen zu sehen, die seit dem christlichen Mittelalter in allen Gesellschaftsformen wiederkehren: jede Ordnung erhält sich durch Ausgrenzung dessen, was als Unordnung gilt. Darum wird der Melancholiker nicht als Leidender oder Opfer ins soziale Mitgefühl eingeschlossen. Vielmehr wird er, dem kein Glück dieser Gesellschaft, dem kein Wissen, kein Beruf, kein Vergnügen und keine Hoffnung seine schwarzen Gedanken vertreiben, zum Außenseiter gemacht, zum Träger eines unsichtbaren Stigmas, das ihn, so passiv, schweigsam und duldend er leben mag, inmitten allen Lebens und aller Freuden zum Einsamen stempelt.
Die abendländische Einsamkeit wurzelt im melancholischen Temperament; wer nicht dazugehört, nicht von den kodifizierten Zielen des Handelns – Gottgefälligkeit, Glück, Erfolg, Reichtum – getragen scheint, macht sich verdächtig. Tendenziell ist jeder Melancholiker auch ein Häretiker oder Dissident. Sein Denken und seine Gefühle schweifen in Zonen des Tabus, der Sünde, der Unmoral, der Normlosigkeit. Das Gefängnis seines Schmerzes wird nicht als solches verstanden, sondern als Hartnäckigkeit und Hochmut, mit denen er sich dem rechten Glauben, den Sitten und Kulturformen entzieht. Dass der Melancholiker über Bewusstsein und Bildung verfügt, macht das Wissen als solches verdächtig. Zuviel Denken, zu viel Grübeln über das, was ist und woran alle glauben und teilhaben, ist ein Übel vor Gott und den Menschen. Davon bleibt die Geschichte des europäischen Intellektuellen bis heute belastet.
So ist es kein Zufall, dass die Melancholie in Gegensatz zur Utopie tritt. Seit den großen Gesellschaftsutopien der Renaissance besteht geradezu ein Melancholie-Verbot. [4] Wo von den Höhen des Staates herab alles bis in die Formen der Sexualität als lückenlose Ordnung des Glücks entworfen wird, dort ist der Melancholiker eine Unperson. In der Melancholie wird verfolgt, was dem verordneten Glück sich entzieht. Das freilich läßt sich auch andersherum lesen: nicht wer satt, glücklich, erfolgreich und mächtig ist, malt Utopien aus. Sondern aus dem kritischen Bruch, dem Leiden an der Gesellschaft, aus der Ohnmacht gegenüber der Gewalt des Staates und dem Schmerz über die Ungerechtigkeit, zur Vertreibung also der Trauer entstehen Utopien. Wir begreifen, daß das, was die Utopisten verbieten, sie selber sind: Leidende. Die Utopisten verraten die Melancholie an die Ordnung, die jene unter Zensur stellt. Undurchschaut bleibt dabei das christliche Erbe und die Nähe der Utopien zur Machtstruktur der entstehenden absolutistischen Staaten. Daß nämlich die Theologie in der Melancholie eine Sünde wider die göttliche Ordnung sieht, liegt auf einer Linie mit dem Verbot, welches die absolutistischen Herrscher am Hofe über die Melancholie verhängen. Beide Male glaubt sich die Ordnungsmacht bedroht. Der Melancholiker, wie er im I7. Jahrhundert für die Salons des entmachteten, vom politischen Handeln abgeschnittenen französischen Adels typisch ist, setzt sich dem Verdacht aus, ein Frondeur gegen den König zu sein. Melancholie wird zum Privileg des Souveräns, der melancholische Untertan zum stillgestellten Rebell.
Keine Epoche jedoch stilisiert so unnachsichtig den Melancholiker zum Typus des Vernunftlosen wie die Aufklärung. Geht man die Gruppen durch, welche die Aufklärung zu ihren Gegnern erklärte, so werden sie sämtlich mit dem Stigma der Melancholie belegt: die Pietisten und Separatisten, die Schwärmer und Fanatiker, die Enthusiasten und Phantasten, die „mönchischen“ Asketen und Religionisten, die Abergläubigen. Sie alle sind Melancholiker deswegen, weil sie den Zielen der Aufklärung, dem allgemeinen Glück, der Geselligkeit, der vernünftigen Religion und humanen Moral nicht entsprechen. Im Umgang mit den als melancholisch etikettierten Minderheiten offenbart die Aufklärung die Grenzen der Toleranzdoktrin. Die separatistischen Schwärmer, von denen das 18. Jahrhundert wahrlich nur so wimmelt, werden zum Feindbild der Aufklärung, auf die alle Negativstereotypen projiziert werden: Geiz, Rachsucht, Misanthropie, Grausamkeit, Heimtücke, Mißtrauen, Argwohn, Furchtsamkeit, Neid, Unbarmherzigkeit, Hochmut, Hinterlist, verstockter Stolz, Heuchelei. Zu Recht sagt Schings, daß „der misanthropische Melancholiker… eine einzige große Provokation der Gesellschaft“ [5] sei. Doch ist nicht zu übersehen, daß der Melancholiker keine Realität, sondern das Konstrukt des stigmatisierten Anderen der Vernunft ist. Der Gewinn des vernünftigen Sprechers dieses Melancholie-Diskurses ist enorm: wird die Melancholie zum Titel aller unerwünschten Charaktermerkmale, so reserviert sich das Vernunftobjekt damit gleichzeitig alle positiven Werte der Gesellschaft: Menschenliebe Mitleid, Großmut, Freundschaft, Familiensinn usw. Ist der melancholische Menschenfeind und Religionist die zentrale Feindfigur, so lassen sich auf der Ebene der diskursiven Strategien noch zusätzlich zwei Frontlinien beobachten: zum einen werden Einbildungskraft und Enthusiasmus radikal diskreditiert; zum anderen werden alle philosophischen Traditionen, die unter den Titel „ägyptischer Neuplatonismus“ zu bringen waren, als Ausgeburten pathologischer Milzsucht physiologisiert. Das trifft alle von der Renaissance ausgehenden hermetischen Philosophen, die Alchemie, die paracelsische Medizin, die Pansophie Jacob Böhmes usw. Ebenso gehören dazu Ficino, Robert Fludd, Giordano Bruno, Pico della Mirandola, van Helmont, Athanasius Kircher u. v. a.. In ihnen allen wirkt – als Verhängnis des brütenden Körpers über den Geist – die melancholische Komplexion. Mit dem Begriff der „manischen Melancholie“ – so etwa bei Annäus Carl Lorry gelingt den Aufklärern ein strategischer Schachzug von weitreichender Bedeutung: indem die Melancholie um den Formenkreis der Manie erweitert wird, wird das Kernstück der melancolia generosa pathologisiert. Denn niemals bestand die „heilige Melancholie“ nur aus der tristitia spiritualis, sondern immer auch – unter Berufung auf die Autorität Platons – im göttlichen Furor. [6] Mit der „hitzigen Melancholie“ werden Phantasie und Enthusiasmus im Kern getroffen. Die aufklärerische Furcht vor Einbildungskraft und grenzüberschreitender Begeisterung schafft sich eine neue Dämonologie. [7] Die Melancholie wird zum Diabolos der Vernunft, der Melancholiker ist der Mensch im Status des Sündenfalls wider die universale Ordnung der Vernunft (bzw. -bis 1750 ein Provokateur der Theodizee). Rationalität heißt: so wie in allem Abweichenden und Minderheitlichen die Melancholie als Krankheitsverursachung angenommen wird, so wittert man umgekehrt in allen Melancholikern den Rebellen gegen die vernunftbewehrten Grundfeste der Gesellschaft. Nicht umsonst geistern im Hintergrund der aufklärerischen Debatten über die Schwärmerbewegungen des 18. Jahrhunderts immer wieder die beiden perhorreszierenden Chiffren „Müntzer“ und „Münster“ – Signen der Rebellion des 16. Jahrhunderts.
„Es ist leicht zu begreifen“ – so kann man, zugespitzt, aber dennoch repräsentativ bei Heinrich Wilhelm Lawätz in dessen Temperamentenlehre von 1777 lesen -: „wie es so weit mit diesem Temperament hat kommen können, daß Feindschaft gegen das ganze menschliche Geschlecht, Haß gegen die ganze Welt und die über die waltende Vorsehung daher entstehen. Und wenn es beym Melancholischen so weit kömmt, daß er die Ursache seiner Unzufriedenheit und der Hindernisse, die seinen Ansichten widerstehen, in den höheren Verhängnissen suchet; so ist er nicht so geneigt, durch abergläubische Bemühungen die Gottheit zu versöhnen, als sie zu verleugnen oder zu lästern. Denn er ist mehr stolz als furchtsam“ [8]
Hier ist die aufklärerische Melancholiekritik auf den Begriff gebracht: der Melancholiker ist der „Feind an sich“ des Menschengeschlechts, der Gesellschaft und Gottes. Man hat darum – mit Schings, gegen Lepenies – zunächst daran festzuhalten, daß die bürgerliche Aufklärung Vernunft und Melancholie in scharfen dynamischen Gegensatz bringt wie Licht und Finsternis, die die Symbolik des Aufklärungsprozesses bestimmen. Der Kampf gegen die Melancholie ist ein Herzstück des „großen Riesenkampfes zwischen der alten Finsternis und dem neuaufgehenden Lichte“ (Ch. Fr. Duttenhofer). [9] Die Melancholie wird zum Schlüsselbegriff für den ersten Feldzug gegen Dissidenten im Namen der Vernunft.
Dennoch hat Schings in seiner Lepenies-Kritik nicht durchgehend recht. Denn zweifellos wird im 18. Jahrhundert die Melancholie auch zur Signatur des aufklärerischen Bürgertums selbst. [10] Dies ist nicht nur an der auffällig hohen Zahl von Melancholikern unter aufgeklärten Gelehrten und Literaten abzulesen – zumindest die mildere Form der Hypochondrie gehörte fast zum guten Ton -, sondern vor allem auch an den Diskursen über den Wahnsinn und den Status, den die Melancholie darin gewinnt. Diese Linie übersieht H. J. Schings. Sie läßt sich leicht ablesen an dem paradigmatischen Übergang von der humoral-pathologischen zur neurophysiologischen Deutung von Melancholie. Die hier zugrunde liegende Reiz- und Tonuslehre erlaubt nämlich eine zunächst überraschende Kombination von medizinischer und soziologischer Argumentation. Die melancholia nervosa ist, wie die Hysterie, das Krankheitsbild, das die kulturkritische Selbstreflexion der bürgerlichen Gesellschaft freisetzt. Möglich wird dies, weil die Begriffe des Nervs und der Reizung die Vermittlung leiblicher Pathologie, Gemütserkrankung und gesellschaftlicher Erfahrung erlauben .
Am Ende des 18. Jahrhunderts verbreiten sich überall in Europa Unruhe und Angst aufgrund des vermeintlichen oder wirklichen Zuwachses an Wahnsinn, gerade in den vernünftigen Sozialschichten. In England, dem bürgerlich fortgeschrittensten Land, sollen die Krankheiten am verbreitetsten sein. Unter Rousseaus Einfluß benachbarn sich nun Natur mit Gesundheit und Gesellschaft mit Krankheit. Ist es etwa die moralische, gesellschaftliche, ökonomische Ordnung der Vernunft selbst, welche Unvernunft produziert? Neue Deutungsformen verbreiten sich, neue Unruhen. Die Melancholie, verschwistert mit der Hypochondrie und Hysterie, gilt schon früh als englische Krankheit (George Cheyne, 1733). Melancholie verbindet begrifflich die Unruhe, Desintegration, Orientierungsdiffusion der Zivilisation mit der nervösen Unordnung im Seelenhaushalt. Urbane Lebensformen intellektuelle Arbeit, ökonomische Spekulation, Reichtum, Religionsfreiheit Gelehrsamkeit, Kunstgenuß – die Momente bürgerlicher Freiheit also – verursachen eine strukturelle Anomie der Gemütskräfte. So angewiesen bürgerliches Bewusstsein auf diese sozialen Formationen von Freiheit als dem Milieu seiner ökonomischen und ideologischen Identität ist – so erscheint diese Identität jetzt mit unglücklichem Bewusstsein geschlagen, nahe der Konversion in schwarze Melancholie, in die Irrlichtereien der Hysterie oder der hypochondrischen Fixation. Das Zeitalter der bürgerlichen Neurosen ist eingeläutet.
Hier ist eine neue Angst entstanden. Es ist nicht die Angst des Rückfalls aus der moralischen Ordnung in die chaotische Animalität, sondern die Angst vor der Apokalypse des Wahnsinns, in welche die fortschreitende Zivilisation den Menschen stellt: Der Zivilisationsprozeß selbst ist es, der die Zukunft zum Wahnsinn hin verdunkelt.
Zur Abwehr dieser Angst werden die ersten großen psychiatrischen Kliniken konstruiert. Sie entsprechen in Anlage und Funktion genau dem Typ von Vernunft, die sich eben jener Angst zu entledigen sucht, die sie doch selbst hervorbringt.
Die Vernunft wird von der Melancholie eingeholt – nicht aber von der ingeniösen, die sie so bekämpfte, sondern von der neurotischen. Nicht ungestraft projiziert man, wie an der Schwärmerkritik erkennbar war, das unterdrückte Eigene auf eine Fremdgruppe, an der es verfolgt wird. Der epochale Gegensatz von Vernunft und Melancholie fällt zusammen. Besonders deutlich wird dies an den Stürmern und Drängern [11] , die die Ziele der Aufklärung radikalisieren und genau dadurch auf deren melancholischen Kern stoßen. Der freiheitliche Schwung durfte nur in den Köpfen stattfinden. Diese erzwungene Wende ins Idealistische, die literarisch durchgespielte Blockierung jeder veränderten Praxis ist die Ursache für die angestrengte Haltung und die Resignation gerade der aktivsten Teile deutscher Aufklärungsbewegung. Wezel, Lenz, Hölderlin mögen für diesen Umschlag von politischer Enttäuschung in Melancholie stehen. Die gefesselte Aufklärung, die ordnungsstrategische Vernunft, aber auch das Versinken weiter Teile des Bürgertums in philiströsen Biedersinn und mutlosen Opportunismus, dieser zähe und muffige Untertanengeist der Deutschen machen die kulturelle Intelligenz zu melancholischen Außenseitern.
Diese Kluft zwischen Künstler und Gesellschaft heilt nie wieder zu. Im Gegenteil: seit nach dem Scheitern der Revolution 1848 das Bürgertum zunehmend seine liberale Orientierung aufgibt und auf dem Weg ökonomischer Entfaltung einen Kompromiß mit den alten Machteliten sucht, seit der demokratische Traum deutscher Einheit die Gestalt eines preußisch-militanten, nationalistischen Großkonzerns in kaiserlichem Gewande annimmt -: da ist der Funktionsverlust der kulturtragenden Intelligenz endgültig. Der Weg in die Subkultur, in die Boheme, den Dandyismus ist vorgezeichnet. Früher schon war ihn in Frankreich Charles Baudelaire gegangen. Mit ihm setzt die Moderne der Kunst ein, deren oft elitäre oder aggressive, formstrenge oder augenblickshaft improvisierte Attitüden den melancholischen Grundton niemals mehr übertönen. Es gibt seitdem keine authentische Kunst mehr, die nicht dem Schmerz entstammt, die nicht die Wunde der Feindschaft zwischen Kunst und Gesellschaft in sich trägt. Auch dort wo der Schein des Schönen gefeiert, wo, wie in der Wiener Moderne um 1900, der leichte Konversationston des Kaffeehauses stilbildend wird, wo die polierten Oberflächen der Artefakte die dunklere Tiefe unsichtbar machen, schimmert die Melancholie als das Grundmuster der ästhetischen Erfahrung durch. Bis heute ist viel zu wenig bedacht, dass die Exilierung der Kultur durch den Faschismus die radikale Zuspitzung eines Prozesses ist, in welchem schon lange vor 1933 die Kunst zum „inneren Ausland“ der Gesellschaft wurde. Diese Verdrängung und Marginalisierung der Kunst ist nicht als Sonderfall zu verstehen. Dass die Melancholie zum Genius der Künste wird, ist ein gesellschaftlicher Prozeß, der bei der Kultur nicht haltmacht. Darum reißt seit der Weimarer Republik die Melancholiedebatte nicht mehr ab. Mir scheint, dass sie unter falschen Vorzeichen geführt wird. Immer nämlich führen dabei Melancholiekritiker das Wort, die entweder von einem „rechten“ Ordnungsdenken her oder von einer „linken“ Moral des Engagements die Melancholie als das Defizitäre ausmachen. Mit seinem katastrophischen Pessimismus richte sich der Melancholiker in einer Position der Verweigerung ein; bestehende oder utopische Werte und Ziele, vorhandene oder zu entwickelnde Mittel und Wege zu ihrer Realisierung nehme der Melancholiker nicht wahr und schade darum dem Kampf um politischen Fortschritt oder stabile Verhältnisse…
Sosehr (Freud) die alte psychiatrische Strategie der Diskriminierung durch eine der Einfühlung in den Kranken ersetzt, gerät ihm die Melancholie zur neurotischen Form von Trauer. Während der Trauernde in der Trauerarbeit seine libidinösen Energien langsam vom verlorenen Liebesobjekt abzieht und sich wieder der Realität zuwenden kann, wird die Melancholie zum Bild einer imaginären Anklammerung ans Verlorene, das im Inneren verewigt wird. Der Melancholiker so Freud – identifiziert sich mit dem verlorenen Objekt. Eine „großartige Ichverarmung“ ist die Folge. Das Ich versteinert in der Position des Verlassenen und empfindet sich als wertlosen Schatten. Auf dem Umweg über diese Selbstbestrafung nimmt das Ich Rache an den ursprünglichen Objekten, deren Verlust wie ein Untergang des Selbst erlebt wurde.
Die Einsichten, die sich hieraus ergeben, haben Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern vorbildlich entwickelt. Hier kommt es auf etwas anderes an. Durch den Melancholie-Begriff Freuds schimmert noch immer die theologische und moralische Verurteilung des Melancholikers. Die versteckte Aggression ist nur ein anderer Ausdruck für die Tücke. Der Narzißmus enthält den Vorwurf der Asozialität, der hartnäckigen Selbstbezüglichkeit und des Rückzugs von der Gesellschaft. Die Ichverarmung setzt den Vorwurf der Trägheit und Starre fort. Melancholie bleibt ein Defizit, ein Mangel an Trauerarbeit und Verantwortlichkeit gegenüber der Realität. Fern liegt Freud die Frage nach den produktiven Möglichkeiten. Nichts erinnert an die großartige Tradition melancholischer Kunst und Philosophie. Nichts auch ist zu spüren von jener Radikalität, die Kierkegaard in seiner Untersuchung der Krankheit zum Tode umtrieb: daß es nämlich zur menschlichen Existenz gehört, in eine Tiefe von Verzweiflungen stürzen zu können, wo es nicht mehr darum geht, den Weg zurück zur Realität zu finden, sondern eine Haltung im Angesicht des Todes. Eine solche Haltung aber hat im Abendland nur in der Melancholie ihre kulturelle Form gefunden. Freud spricht als Therapeut; darum wertet er die Trauer hoch und erklärt die Melancholie zur neurotischen Reaktion, der ärztlich abzuhelfen sei. Diese Medizinierung der Melancholie aber vergißt, daß es Weltzustände und existentielle Situationen gibt, in denen die Melancholie eine angemessene Haltung darstellt. Vielleicht leben wir heute in einer solchen Epoche der globalen Verdüsterung der Lebensmöglichkeiten. Und vielleicht geht es darum, in der gesellschaftlichen Krankheit eine „Freiheit zum Tode“ zu finden, also eine melancholische Haltung
In dunkleren Augenblicken wissen wir, dass der Weg unserer Handlungen und Geschichte auch einer des Todes ist. Jede Entscheidung läßt die vielen verworfenen Möglichkeiten sterben; wir leben von einer Unzahl getöteter Kreaturen; wir töten, was uns als Feind gilt; wir kranken daran, daß wir nicht ewig sind; wir bauen, schaffen, arbeiten in wütender Obsession an unserem Überleben wir setzen auf unsere Dauer in Werken, Kindern, Institutionen. Der Melancholiker aber sieht, daß das Leben auf einer gewaltigen Welle des Todes in eine Zukunft strömt, die die „Schädelstätte der Geschichte“ (Lucacs) nur vergrößert. Darum ist die Ruine der eigentliche Ort des Melancholikers. Die Ruine zeigt unseren mächtigen Bauwillen im Übergang zum endgültigen Verfall. Was einst Ausdruck lebensvoller Energien, Stätte des Handels oder der Liebe, Ort des Gebets oder der Arbeit war, ist jetzt Zeugnis einer eigenartigen Verwandlung, durch die das Schauspiel des Lebens zur Totenklage wird. Noch ist der Bauplan des Hauses, der Stadt zu erkennen, noch stehen Gewölbe, Torbögen, Mauergerippe aber schon frißt das Wasser am Stein, krallen sich Pflanzen in die Risse der Mauern, spielt der Wind in den Fensterhöhlen, huschen die unheimlichen Tiere der Nacht durch Räume, die spurenhaft noch das vormalige Leben der Menschen bewahren. Die Natur holt sich, was der Mensch ihr abgerungen hat, zurück. Die Ruine läßt spüren, daß unsere Einrichtungen eines lückenlosen Energieaufwands zu ihrer Erhaltung bedürfen. Nichts aber hat Bestand; dies ist das unnachgiebige Wissen des Melancholikers. So mächtig, stolz, siegreich sich unsere Bauwerke erheben – es gibt eine stärkere Kraft, die des leisen, unmerklichen Niedersinkens.
Es ist das 17. Jahrhundert, das diesem Bild von Geschichte seinen Ausdruck gegeben hat. Dies hat zuerst Benjamin in seinem Trauerspiel-Buch entdeckt. Ihm erwächst die Rehabilitation der Allegorie und der Melancholie.
In der Allegorie, sagt Benjamin, „liegt die facies hippocratica der Geschichte als erstarrte Urlandschaft dem Betrachter vor Augen. Die Geschichte in allem, was sie Unzeitiges, Leidvolles, Verfehltes von Beginn an hat, prägt sich in einem Antlitz – nein, in einem Totenkopfe aus. Und so wahr alle „symbolische“ Freiheit des Ausdrucks, alle klassische Harmonie der Gestalt, alles Menschliche einem solchen fehlt – es spricht nicht nur die Natur des Menschendaseins schlechthin, sondern die biographische Geschichtlichkeit eines einzelnen in dieser naturverfallensten Figur bedeutungsvoll als Rätselfrage sich aus. Das ist der Kern der allegorischen Betrachtung, der barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt; bedeutend ist sie nur in den Stationen ihres Verfalls.“ [13]
Diese saturnische Vision der Geschichte enthält sicher nicht mehr die göttliche Seite des melancholischen Temperaments. Ihr allegorischer Ausdruck ist darum die Ruine, der Trümmerplatz der in Natur zurücksinkenden Intentionen und symbolischen Ordnungen der Menschen. Im Bedeutungsrausch der Allegorien gerät alles zur Elegie des Todes. Dem Allegoriker bedeutet Schönheit nur, was sie wird: Leiche. In hochmütiger Unberührbarkeit – das ist die acedia – verpanzert sich der Melancholiker gegen die Zumutungen des handgreiflichen Lebens. Erst solcher Fremdheit gerät alles zur Bedeutung, die den Dingen in der artifiziellen Kalkulation der Allegoriearrangements entrissen wird, um sie zu mortifizieren. „Produktion der Leiche, ist vom Tode her betrachtet, das Leben.“ [14] Derart vom Ende her fällt der melancholische Blick des 17. Jahrhunderts auf die Geschichte. Das genau macht seine Modernität aus. Gewiß trägt die barocke Metaphysik nicht mehr. Wenn heute wieder in der Kunst ein „melancholischer Allegorismus“ zu beobachten ist, so unterscheidet sich dieser von der barocken Allegorie dadurch, daß nicht nur die Geschichte im Bild der Natur als ewige Vergängnis erscheint, sondern daß der Akt des allegorischen Bedeutens selbst veraltet und verfällt. Die barocken Mortifikationen entspringen noch einer Heilshoffnung, die ihre unwiderstehliche Kraft gerade aus der Insistenz der Trauer über das Vergängliche zieht. Solche Hoffnung ist heute selbst vom Tode gezeichnet.
Das Projekt Benjamins (und des frühen Adornos) [15] war es, aus der Dialektik der Allegorie eine säkularisierte Geschichtsphilosophie zu entwickeln. Die allegorische „Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte“ sollte hineingerettet werden in eine Philosophie des mythischen Banns, der naturhaft auf der Geschichte liegt. Dieser Bann, der die geschichtlichen Objektivationen ins Emblem der Vergängnis transfiguriert, ist die Entfremdung und Verzauberung, der die Menschen zwanghaft, durch Herrschaft unterliegen. Geschichte in der Physiognomie der Ruine zu entziffern, heißt in diesem Kontext, sie als Vorgeschichte zu lesen. Mit Hegel und Marx hatte man gelernt, diese Vorgeschichte zu entwickeln als den notwendigen Gang, den die am Horizont aufscheinende Freiheit durch die Zeichenkette ihrer Erniedrigung geht. Dialektik führt, noch einmal, das Mysterienspiel der Allegorien auf: an den Chiffren der auf Natur zurückgefallenen Intentionen, im Zeichenprozess der Vergängnis und der Leidensgeschichte der Entfremdung wird der Gang des Weltgeistes abgelesen – zumindest die Zeichen der Kritik und der unabgegoltenen Vergangenheiten.
Heute ist es so, als erschienen die heilsgeschichtlichen wie die säkularisierten Geschichtsphilosophen der Moderne nur noch im Zeichen ihrer Auflösung. Dies wäre ein Symptom der Posthistoire. Wir haben wohl davon auszugehen, daß die authentischen kulturellen Produktionen heute daran erkennbar sind, daß sie sich jedem Schein von Versöhnung widersetzen -ja, daß in ihnen eine der wichtigsten Ressourcen des geschichtlichen Prozesses nur noch allegorisch, aufgezehrt und verbraucht erscheint: der bis zur Moderne anhaltende Glaube, daß die Problemlösungsfähigkeit der Menschen die zu bewältigenden Probleme übersteigt. Dies hieße, daß Geschichte in den Zustand des unaufhaltsamen Verfalls und der Verwüstung überginge. Die Ruine als zentrales Signum der Posthistoire, wie Hannes Böhringer [16] vermutet, spiegelt eine Epoche, in der Geschichte erlösungslos auf Naturgeschichte zurückfällt. Der luziferische Absturz, in den alles hineingezogen wird, entbehrt dabei des alten melancholischen Wissens, daß der gefallenen Natur und der Schädelstätte, als den Umschlagpunkten der Geschichte, das Heil entspringt.
So ist vielleicht doch nicht die barocke Melancholie, wie sie Benjamin versteht, die Haltung, die heute zu beerben ist. Zurückkehren möchte ich am Ende vielmehr auf jenes Bild, das ich ganz zu Beginn schon nannte: das Urbild des saturnischen Temperaments die „Melencolia I“ von Albrecht Dürer. Treffend nennt Gottfried Benn diesen schwermütigen Engel einen „Genius ohne Schlaf auf bloßem Stein, mit Geduld gekrönt, die nichts erwartet, die Ellenbogen aufs Knie gestützt, die Wange an die Faust gelehnt, schweigend dabei, seine offenkundigen und seine geheimen Werke zu erfüllen, bis der Schmerz erklungen ist, das Maß vollbracht und die Bilder von ihm treten in der Blässe der Vollendung“. [17] Hiermit schließt Benn, an einem Tiefpunkt der Geschichte, im Krieg 1944, seinen Roman des Phänotyp. Es ist, als holte uns im 20. Jahrhundert die Melancholie wieder ein. Jetzt erst wird die Dürersche Melencolia verstanden in den großen kunsthistorischen Arbeiten von Giehlow, Saxl, Klibansky und vor allem Erwin Panofskys. Gottfried Benn identifiziert in ihr den Künstler, der durch die Zerüttungen der Geschichte gegangen – seine einsame Arbeit an der Form, der Ausdruckswelt leistet. Doch sind auch die von den Schrecken dieses Jahrhunderts entsetzten Philosophien Walter Benjamins und Theodor W. Adornos von den Zeichen durchzogen, die Dürer ins Bild der Melancholie setzt.
Dürer, so wissen wir von Melanchthon, begriff sich selbst als Melancholiker. In seiner „Melencolia I “ [18] gestaltet er – an der Schwelle zur Neuzeit, die ein Aufbruch im Zeichen der menschlichen Autonomie war – deren Kontrapunkt: einen geschichtsphilosophischen Pessimismus, der heute, nach dem Scheitern der Aufklärung, zur Chiffre des postmodernen Epochenbewußtseins wird. Die Bildanalysen der Dürerschen Melencolia zeigen, daß dieser düstere Engel mit dem scharfen, in leere Unendlichkeit gerichteten Blick umgeben ist von Gegenständen, die alle zur technischen Praxis und mathematischen Wissensgewinnung in Beziehung stehen: es sind z. B. Zirkel und Buch, Hammer und Säge, Hobel und Drechslerkugel, Waage, Lineal, Nägel und Zange, ein Stundenglas, ein mathematisch-astrologisches Gebilde, das magische Quadrat, ein im Bau befindliches Haus, ein geometrisch konstruierter Körper. Die Bedeutung dieser sinnlos verstreuten Gegenstände löst sich – nach Panofsky/Saxl/ Klibansky – auf, wenn realisiert wird, daß Saturn auch der Herr der saturnischen Berufe ist: Baumeister, Steinmetz Tischler, Drechsler, Zimmermann – : Sie bedienen sich der Geometrie und Mathematik. Symbolisch hat Dürer all dies in seinem Bild versammelt. Aber was bedeutet dies ? Dürer bringt einen Engel ins Bild, der vom Geist der Mathematik und Geometrie sowie von den davon abgeleiteten technischen Möglichkeiten resignierend abläßt und in eine kontemplative Starre angesichts leerer Unendlichkeit fällt. Wir wissen heute, daß Dürer darin auch seine Resignation gestaltete, mit den Mitteln der Rationalität, Mathematik und Messkunst, das Geheimnis der Schönheit konstruieren zu können. Dies ist es, was die „Melencolia“ so modern macht. Die Kunst trennt sich von Wissenschaft und Technik, die ihrerseits den geschichtlichen Prozess zunehmend dynamisieren und beherrschen. In einsamer Abspaltung, aus der Erfahrung einer fundamentalen Trennung heraus tritt die Kunst ins Zeichen des Saturns: sie bildet ihre Werke in Zonen des Schmerzes und des Schweigens, einem Schattenreich der Kontemplation, die vor den Mächten der Geschichte abgedankt hat.
…
Saturn ist der Gott, der seine Kinder frisst; der Gott der Zeit, der einzigen Zeit, die wir haben. Dass die Geschichte in sein Zeichen tritt, macht den Denker und Künstler zum Melancholiker.
Die Melancholie, die uns droht, trägt das Antlitz des Dürerschen Engels. …
Anmerkungen
[1]
Zuerst in: Erwin Panowsky/Fritz Saxl: Dürers „Melencolia I“. Eine Quellen- und Typengeschichtliche Untersuchung, Leipzig 1923, S. 32ff. -Vgl. ferner: R. Klibansky/E. Panofsky/F. Saxl: Saturn and Melancholy; Liechtenstein 1979. – E. Panofsky: Symbolism and Dürer’s „MelencoliaI“, in: Morris Weitz (Hg.): Problems in Aesthetics, 2. Aufl. NewYork 1970, S. 467ff.
[2]
Panofsky/Saxl, a. a. O. S. 3 5.
[3]
Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977. – Die Untersuchung von Schings ist die beste und materialreichste zum Melancholieproblem im Zeitalter der deutschen Aufklärung. – Zum Forschungsstand vgl. Wolfram Mauser: Melancholieforschung des 18. Jahrhunderts zwischen Ikonographie und Ideologiekritik. Auseinandersetzung mit den bisherigen Ergebnissen und Thesen zu einem Neuansatz, in: Lessing-Yearbook Vol . XIII, 19981, S. 253-277.
[4]
Zum folgenden vgl. die noch immer unverzichtbare Studie von Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969, Kap. III u. IV.
[5]
Schings a. a. O. S. 47.
[6]
Der furor divinus wird im Aufklärungsverständnis zum platonischen Wahnwitz, vgl. Schings, a. a. O. S. 1 5 l .
[7]
Vgl. Schings, a.a.O., ferner: Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft, Frankfurt/M. 1983, S. 1l7ff., 387ff.
[8]
Zit. nach Schings a. a. O. S. 48.
[9]
Zit. nach Schings a. a. O. S. 193.
[10]
Vgl. zum folgenden auch Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973 – Klaus Dörner: Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, Frankfurt/M.1975
[11]
Gert Mattenklott: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, Stuttgart 1968.
[12]
Sigmund Freud: Trauer und Melancholie, in: ders.: Studienausgabe, hg. v. A. Mitscherlich u. a., Bd. III, Frankfurt/M. 1975, S. 175ff.
[13]
Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt/ M. 1969, S. 182f.
[14]
Ebd. S. 246.
[15]
Vgl. den stark von Benjamin inspirierten frühen Aufsatz von Th. W. Adorno: Die Idee der Naturgeschichte, in: ders.: Ges. Schr. hg. v. R. Tiedemann, Bd. 1, Frankfurt/M. 1973.
[16]
Hannes Böhringer: Die Ruine in der posthistoire, in: Merkur Jg. 36 (1982), H. 4, S. 367-75.
[17]
Gottfried Benn: Ges. Werke, hg. v. D. Wellershof, Bd. 5, Wiesbaden 1968, S. 1376.
[18]
Zum folgenden s. wieder Panofsky/Saxl a. a. O.
[19]
Susan Sontag: Im Zeichen des Saturn, München/Wien 1981, S. 146.