Von Christoph Deutschmann. (Auszüge aus einem Vortrag. Original vgl.: www.jp.philo.at)
Konsumkritik ist ein sehr altes, traditionsreiches Geschäft. Schon Hegel war der Meinung, dass die
bürgerliche Gesellschaft zur Ausschweifung neige und dann, als deren Gegenstück, das
Elend hervorbringe. „Der Mensch“, so führte er aus, „erweitert durch seine Vorstellungen und
Reflexionen seine Begierden, die kein beschlossener Kreis sind wie der Instinkt des Tieres, und
führt sie ins schlecht Unendliche“. Und er hatte auch schon eine Idee, wie man
die Maßlosigkeit der Konsumenten erklären kann: „Es wird ein Bedürfnis daher nicht sowohl von
denen, welches es auf unmittelbare Weise haben, als vielmehr durch solche hervorgebracht,
welche durch sein Entstehen einen Gewinn haben“. Mit diesen beiden Aussagen
hat Hegel zwei zentrale Themen der Konsumkritik, die bis heute die Diskussion bestimmen,
vorweggenommen, nämlich erstens: Die Konsumenten sind unersättlich, sie wollen immer mehr
und immer etwas Neues; zweitens: In Wirklichkeit wollen sie es gar nicht selbst, sondern es wird
ihnen durch die Industrie und die Werbung aufgedrängt, sie werden manipuliert. Die marxistische
Konsumkritik von Lukacs über Adorno/Horkheimer bis Debord oder Haug argumentierte auf dieser
Linie. Die Konsumenten wurden hier als Marionetten der Konzerne und der Verwertungszwänge des
Kapitals hingestellt. Adorno und Horkheimer gingen bekanntlich so weit zu behaupten, dass die
Konsumenten eigentlich gar keine Entscheidungen mehr treffen; über sie wird vielmehr in den
Planungsabteilungen der Konzerne entschieden. Die postmoderne Schule (Lyotard, Jameson)
erblickte in dieser Theorie eine Bevormundung der Konsumenten. Der Konsum sei keine Sphäre der
Unterdrückung, sondern im Gegenteil der Freiheit und der friedlichen Selbstentfaltung der
Individuen – eine Sichtweise, die bei der anderen Seite natürlich wieder auf
heftigen Widerspruch stieß. Dieses Wechselspiel von Kritik und Gegenkritik hat sich in der jüngeren
Vergangenheit mit konsumkritischen Beiträgen z.B. von George Ritzer, Naomi Klein oder Benjamin
Barber und Gegenpositionen wie etwa dem „konsumistischen Manifest“ von Norbert Bolz
wiederholt.
Ich möchte dieses Spiel hier nicht fortsetzen und werde nicht versuchen, zu entscheiden, ob der
Konsum nun ein Herrschaftsinstrument oder ein Vehikel der Befreiung ist. Vielmehr geht es mir
darum, zunächst genauer zu klären, was mit der These von der Unersättlichkeit der Konsumenten
selbst gemeint sein könnte. Ich werde einige theoretische Modelle zur Erklärung des Phänomens
der Unersättlichkeit präsentieren und diskutieren. Dabei geht mir vor allem darum, den inneren
Zusammenhang zwischen Geld und der Dynamik des Konsums herauszuarbeiten. Die Phänomene
der Konsumdynamik finden gerade heute, im Zusammenhang mit der Kritik an den
Wachstumszwängen des Kapitalismus, wieder Aufmerksamkeit. Das unaufhörliche Wachstum der
Bedürfnisse, so wird gesagt, sei heute zu einer Art Religion geworden, von der wir uns befreien
müssen, um aus der ökonomischen und der ökologischen Krise herauszukommen. Wir müssen
bescheidener werden und lernen, mit weniger auszukommen. Nicht nur Grüne (etwa Niko Paech),
sondern auch Konservative wie Meinhard Miegel (2010) argumentieren so. Ich werde nun keine
derartigen Botschaften verkünden. Bevor man das tut, so finde ich, sollte man erst einmal genauer
analysieren und zu verstehen versuchen, woher der Drang nach Wachstum und Innovation im
Konsumbereich eigentlich kommt. Dazu will ich einen Beitrag leisten.
Was „wächst“ eigentlich, wenn wir von einem Wachstum des Konsums sprechen? Gemeint ist
offensichtlich nicht nur die „Menge“ der gekauften Güter und Dienstleistungen (die man auch gar
nicht einfach zusammenzählen könnte), sondern ihr Wert. Einem Vorschlag von Jens Beckert
(2011) folgend, möchte ich zwischen drei Dimensionen der Wertbestimmung von Konsumgütern
bzw. Dienstleistungen unterscheiden: Der physischen, der positionalen und der imaginären. Das
heißt: Güter und Dienstleistungen gelten als wertvoll aufgrund ihrer physischen Eigenschaften,
ihrer Funktionalität für die Befriedigung physischer Bedürfnisse (mit einem Fahrrad kann man von
A nach B fahren, mit einem Mantel sich gegen die Kälte schützen). Sie können zweitens als wertvoll
gelten aufgrund ihrer Signalfunktion für die soziale Position des Konsumenten (eine Patek-Philippe-
Uhr oder ein Armani-Anzug z.B. weisen ihren Träger als Mitglied gehobener sozialer Schichten
aus). Güter oder Dienstleistungen können aber schließlich auch als wertvoll erscheinen, weil sie
Träume oder Imaginationen verkörpern, z.B. Schönheit, Jugendlichkeit, Kompetenz, Geborgenheit,
Liebe oder das Gute im Menschen; dies wäre die imaginäre Dimension der Wertbestimmung. Wenn
der Konsum „wächst“, dann meinen wir damit, dass die Wertschätzung der gekauften Konsumgüter
in einer oder mehreren dieser Dimensionen wächst – und damit natürlich auch der Preis, der für sie
bezahlt werden muss.
Unter dem physischen Gesichtspunkt kann Wachstum des Konsums sowohl eine Zunahme der
Menge der Güter/Dienstleistungen als auch eine Veränderung ihrer Eigenschaften im Sinn einer
Verbesserung ihrer materiellen Funktionalität bedeuten. Eine solche Entwicklung hat es im Zuge
der „Fress“-, Bekleidungs- und Motorisierungswellen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts in
Westeuropa auch tatsächlich gegeben. Die Ausstattung der Haushalte mit Automobilen,
Kühlschränken, Waschmaschinen, Fernsehgeräten nahm sprunghaft zu . Ebenso verbesserte sich die technische Leistungsfähigkeit dieser Geräte; in der Literatur werden diese Entwicklungen mit „Consumierism“ oder „Konsumgesellschaft“ bezeichnet. Ökonomen pflegen die physische Seite des Konsums zu betonen. Aus dieser Sicht gibt es das Problem der Unersättlichkeit nicht, denn gibt eine „natürliche“ Tendenz zur Sättigung aufgrund des mit steigender Gütermenge abnehmenden Grenznutzens der Güter: Niemand kann zwanzig Schnitzel täglich essen oder fünfzig Videos gleichzeitig konsumieren. Der Wachstumstheoretiker Walt Rostow prophezeite deshalb vor fünfzig Jahren, dass die entwickelten Länder sich einem Stadium der „Reife“ aufgrund der hohen Sättigung der Bedürfnisse nähern würden.
Diese Prognose war keineswegs völlig falsch, wie wir heute wissen. Es ist zu einer deutlichen
Abflachung der Konsumdynamik in den entwickelten Ländern gekommen; vor allem in den letzten
zehn Jahren sind die realen Konsumausgaben der privaten Haushalte nicht mehr stark gestiegen.
EU-weit betrug die jahresdurchschnittliche Steigerungsrate im Zeitraum 2001-2010 nur etwa 1,4
Prozent. Im Ausmaß der Konsumdynamik zeigen sich allerdings erhebliche nationale Unterschiede.
In Österreich betrug die durchschnittliche Steigerungsrate 1,3 Prozent, in Italien und noch mehr in
Deutschland kann man bei Raten von 0,6 und 0,4 Prozent fast von einer Stagnation des Konsums
sprechen. In Großbritannien dagegen betrug der jahresdurchschnittliche Zuwachs 1,7 Prozent, in
den USA 2 Prozent, in europäischen Ländern wie Irland oder Spanien waren die Zuwachsraten noch
höher.
Erhebliche Unterschiede gibt es auch zwischen den Einkommensklassen. In einer Reihe von Ländern sind die realen Masseneinkommen schon seit Jahrzehnten nicht mehr gestiegen oder sogar gesunken. Das hat Haushalte mit geringeren Einkommen oft gezwungen, ihre Konsumausgaben zu begrenzen oder zu reduzieren. Dort, wo der Massenkonsum trotzdem weiter gestiegen ist, wie in Großbritannien und den USA, hat das zu einer starken Zunahme der Verschuldung der Haushalte geführt. In den höheren Einkommensgruppen dagegen war nicht nur die Entwicklung der Einkommen aufgrund überproportional steigender Erwerbs- und vor allem Vermögenseinkommen deutlich positiver, sondern auch die der Konsumausgaben. Vor allem der Luxuskonsum zeigte hohe Zuwachsraten.
Die Unersättlichkeit des Konsums, soviel zeigt der Überblick über die Daten, ist vor allem ein
Phänomen der mittleren und gehobenen Einkommensgruppen. Einer im Jahr 1995 durchgeführten
Umfrage unter amerikanischen Konsumenten mit einem Jahreseinkommen von mindestens
100.000$ zufolge waren 27 Prozent der Befragten der Meinung, sich nicht alles leisten zu können,
was sie wirklich benötigten. Und der Anteil derjenigen, die Zweit- und Drittautos sowie
Fernsehgeräte auch in den Schlaf- und Kinderzimmern für unabdingbar hielten, ist in den USA in
den letzten Jahrzehnten ständig gestiegen. Steigende Einkommen, so zeigt sich
hier, führen trotz der tendenziell sinkenden materiellen Konsumneigung nicht automatisch zu einer
„Sättigung“ der Bedürfnisse. Die Konsumforschung erklärt dies mit der These, dass Konsum nicht
nur eine materielle bzw. physische, sondern auch eine symbolische Seite hat. Dieser „symbolische“
Konsum bestimmt heute den überwiegenden Teil der Konsummärkte. Konsumgüter „sind“ nicht nur
etwas, sondern „bedeuten“ auch etwas. Durch die Art, wie sie sich kleiden, wohnen, den Urlaub
verbringen usw., ordnen die Konsumenten sich nicht nur in vorgegebene, bzw. durch die
Konsumindustrie geprägte Muster und soziale Erwartungen ein. Sie möchten sich vielmehr in einer
bestimmten Weise präsentieren, ihre Person, ihre Zugehörigkeiten, Eigenschaften, Fähigkeiten in
einem positiven Licht darstellen und daraus einen Distinktionsgewinn erzielen. Anders als
materielle Bedürfnisse scheint der Hunger nach solchen Inszenierungen in der Tat grenzenlos zu
sein, und er nimmt mit steigendem Einkommen offenbar nicht ab, sondern zu. Von Schopenhauer
stammt das Bonmot, mit dem Geld verhalte es sich wie mit dem Seewasser: Je mehr man davon
trinke, desto durstiger werde man. Das Gleiche scheint auch für den symbolischen Konsum zu
gelten. Das verweist auf einen Zusammenhang zwischen symbolischem Konsum und Geld. Dieser
Zusammenhang ist, wie ich zeigen möchte, nicht nur äußerer, sondern innerer Art. Der Unterschied
zwischen Reichtum und Armut reduziert sich nicht auf eine ungleiche „Verteilung“ der Güter, d.h.
dass der Reiche viel, der Arme wenig hat, wie oft oberflächlich gesagt wird. Entscheidend ist
vielmehr – dies hat Georg Simmel herausgearbeitet –, dass das Geld den Reichen in die Lage versetzt,
wählen zu können. Selbst wenn er sich für eine asketische Lebensweise entscheidet, ist das
Ausdruck einer freien Wahl. Die Wahlfreiheit, die der Reiche aufgrund seines Geldes genießt, lässt
den Appetit auf Güter erst entstehen, die sonst unerreichbar fern erschienen. Der Arme dagegen
hat keine Wahlfreiheit; er kann immer nur das Nötigste und Billigste nehmen. „Symbolisch“
konsumieren heißt: dem Zwang der puren Lebensnotwendigkeit enthoben sein, wählen können,
sich selbst in seinen Konsumentscheidungen ausdrücken können, und das setzt natürlich Geld und
ein Einkommen voraus, das mehr als das Notwendige abdeckt. Das soziale Stigma der Armut
beruht genau auf dieser Differenz. Bourdieu spricht vom „Geschmack der Notwendigkeit“, aber
genau genommen ist der Punkt ja, dass der Arme sich einen „Geschmack“ überhaupt nicht leisten
kann, dass seiner ganzen Erscheinung der Geruch der Notwendigkeit anhaftet.
Die Symbolik des Konsums ist keineswegs ein ausschließlich modernes Phänomen. Auch in der
ständischen Gesellschaft waren die Unterschiede von Kleidung, Möblierung, Nahrung symbolisch
hoch aufgeladen, wobei hier die positionale Symbolik dominierte. Im ständischen System hatten
alle Untertanen ihren festen Platz und das Konsumverhalten war sichtbarer Ausdruck dieses
sozialen Status. Aufwand und Repräsentation fungierten als Marker für eine als gottgegeben
betrachtete Sozialhierarchie. Vor allem die Bekleidung war deshalb auch durch detaillierte Konventionen und Vorschriften festgelegt. So galt in Italien im 14. Jahrhundert für die Länge der Schnabelschuhe von Fürsten und Prinzen 2 ½ Fuß, für höhere Adlige 2 Fuß, für einfache Ritter 1 ½ Fuß .
Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts lassen sich zwei Entwicklungen beobachten: Zum einen die Dynamisierung der positionalen Symbolik, zum anderen die Lösung der Konsumsymbolik von der Statusdimension überhaupt und ihre Erweiterung zur imaginären Symbolik. Beides sind die zentralen Momente der modernen „Unersättlichkeit“ des Konsums, die ich im Folgenden näher betrachten werde.
Die Dynamisierung des Konsums lässt sich zunächst als prozessuale Entfaltung einer in der
Symbolik des Konsums selbst angelegten Paradoxie begreifen. Sie besteht darin, dass der eigene
Lebensstil einerseits als nachahmenswert und vorbildlich präsentiert wird; auf der anderen Seite
aber möchte man die Nachahmung durch andere gerade verhindern, weil dadurch der
Distinktionswert des betreffenden Lebensstils zerstört wird. Es war das Ziel der erwähnten
Kleiderordnungen der Ständegesellschaft, solche Nachahmungen zu unterbinden.
Ein erster großer Durchbruch in Richtung auf Dynamisierung scheint in England in den 60-er und
70 Jahren des 18. Jahrhunderts stattgefunden zu haben. Vor allem in
London entwickelte sich damals eine veritable „Konsumrevolution“: Ein wohlhabend gewordenes
mittelständisches Publikum von Handwerkern, Kaufleuten, Landwirten und Beamten stattete sich in
großem Stil mit Gegenständen aus, die bislang als „Luxus“ galten und den höheren Ständen
vorbehalten waren: Seidenkleider, Porzellangeschirr, Stilmöbel, Kinderspielzeug,
Frauenzeitschriften und vieles andere mehr. Zugleich kam es zu einer „Freizeitrevolution“: Theater und
Konzertbesuche, der Besuch von Pferderennen oder Landausflüge wurden zu festen
Gewohnheiten bürgerlichen Lebens. Hintergründe dieser neuen bürgerlichen Lust am Konsum
waren zum einen die gestiegenen Geldeinkommen, zum anderen das Bedürfnis nach Nachahmung des Lebensstils der adligen Eliten; unterstützt wurde die Entwicklung durch die bereits damals recht offene Ständestruktur der englischen Gesellschaft.
Die massenhafte Nachahmung bis dahin exklusiver Lebensstile setzte einen für den modernen
Konsum charakteristischen dynamischen Mechanismus in Gang, der in der Konsumsoziologie mit
dem Stichwort „trickle-down“ beschrieben wird: Soziale Aufsteiger bemühen sich, ihre pekuniäre Potenz auch äußerlich sichtbar in soziale Respektabilität zu übersetzen. Dazu ahmen sie die Lebensstile der jeweils höheren Schichten nach und eignen sich deren Konsumsymbole an. Diese diffundieren damit
gleichsam nach „unten“ (trickle down) und verlieren ihren Distinktionswert. Die höheren Schichten
reagieren darauf, indem sie ihre alten Symbole aufgeben und neue Vorlieben entwickeln, durch die
sie sich wiederum von der Masse abheben können.
Angetrieben durch die gegenläufigen Motive der Imitation einerseits, der Distinktion andererseits, kommt so ein sich selbst perpetuierender Mechanismus der Erzeugung immer neuer Konsummoden in Gang. Was den trickle-down-Prozess historisch in Gang setzte, war, wie Veblen, Bourdieu und viele
andere gezeigt haben, der Wettbewerb bürgerlicher und kleinbürgerlicher Aufsteiger um soziale
Reputation. Aber hinter dieser Triebkraft stand noch etwas anderes: die ständische Unterschiede
nivellierende Macht des Geldes. Geld macht Privilegien zugänglich, die ursprünglich unverrückbar
durch die individuelle Herkunft zugeteilt schienen. Geld bricht die ständische Blockierung der
Paradoxie der Konsumsymbolik (ich darf das Vorbildliche nicht nachahmen) auf und ermöglicht ihre
dynamische Entfaltung. Der Anspruch der Aufsteiger auf einen privilegierten sozialen Status, den
sie auch in den sichtbaren Attributen ihrer Lebensführung zum Ausdruck bringen möchten, stützt
sich auf ihre durch Markterfolge erreichte Zahlungsfähigkeit. Besonders ehrgeizige Aufsteiger,
deren finanzielle Potenz eigentlich noch nicht ausreicht, können die Insignien der gewünschten
privilegierten Position auch vorwegnehmend, durch Kredit erwerben. Sie handeln nach dem Motto:
Mehr scheinen als sein und spekulieren darauf, dass der Schein sich rückwirkend in Realität
verwandelt; zusätzlich setzen sie sich selbst unter Druck, das angestrebte Ziel auch zu erreichen.
Das normative Bezugssystem, an dem sich das Auszeichnungsbedürfnis orientiert, ist in dem
Modell des positionalen Konsums jedoch selbst noch durch die ständische Vorstellung einer
natürlichen Hierarchie sozialer Respektabilität geprägt. Die Akteure bleiben auf die ständische
Wertehierarchie fixiert, ohne zu sehen, dass sie diese Hierarchie durch ihr eigenes Verhalten
untergraben und nivellieren.
An dieser Stelle tritt nun die Theorie des imaginären Konsums in den Blick. Moderne Konsumenten sind primär nicht an materiellen Befriedigungen interessiert (die als gesichert vorausgesetzt werden). Ihre Aufmerksamkeit dreht sich um ihre eigenen „Tagträume“, d.h. Phantasien über eine schönere, angenehmere, liebevollere, spannendere Welt, denen sie nachhängen und die ihnen unvergleichlich mehr Befriedigung bieten als materielle Objekte es je könnten. Allerdings wollen die Konsumenten nicht nur träumen, sondern ihre Träume auch ausleben.
Zweitens: Tagträume entstehen unter dem Einfluss der kulturellen Umwelt. Die Leute bummeln in Einkaufsparadiesen, sehen Filme und Werbespots, lesen Romane und lassen sich dadurch in ihren Phantasien stimulieren. Er oder sie möchte ein Idealbild von sich selbst als z.B. schön, jugendlich, sportlich, überlegen, edelmütig etc. inszenieren. Weder das Bedürfnis nach Nachahmung noch die soziale Statuskonkurrenz spielen eine entscheidende Rolle. Es kommt nicht darauf an, dass ich anderen gefalle, sondern vor allem muss ich mir selbst etwas Gutes tun. Dieses ichbezogene Motiv findet sich auch in vordergründig altruistischen Konsuminszenierungen, z.B. in dem sog. „ethischen“ Konsum, oder in Bildern „romantischer“ Liebe. Denn auch hier ist
das Wohlgefühl, das ich als „guter“ bzw. als „geliebter“ Mensch mit mir selbst habe, der
entscheidende Antrieb. In der neueren Forschung dominiert die Auffassung, dass auch die ästhetischen Idole der Konsumenten durch soziale Muster, d.h. Konsummilieus und entsprechende Lebensstile bestimmt sind.
Drittens: Der moderne, auf imaginativen Hedonismus gestützte Konsum ist seiner Natur nach
unersättlich. Die Konsumenten können nicht unendlich in ihren Phantasien schwelgen; irgendwann
muss der Schritt in die Realität gewagt und der Kauf getätigt werden. Aber jeder Kauf endet in
Enttäuschung, denn das gekaufte Objekt bleibt notwendigerweise hinter den Wünschen und
idealisierten Erwartungen zurück, die man mit ihm verknüpft hatte. Manche Konsumenten
reagieren auf die Enttäuschung so, dass sie sich zunächst noch nicht von dem Traum selbst
verabschieden, sondern nur seine Inszenierung durch weitere Käufe zu vervollständigen suchen.
Man spricht hier von dem „Diderot-Effekt“, nach dem Philosophen Diderot, der einen neuen
Morgenmantel geschenkt bekam und daraufhin das Gefühl hatte, seine ganze Wohnung
umgestalten zu müssen. Wer sich als Staralpinist nach dem Vorbild Reinhold Messners inszenieren möchte, braucht nicht nur den entsprechenden Eispickel, sondern auch die Schneebrille, den Anorak, die Schuhe usw. Eine Anschaffung erzeugt so den Bedarf nach weiteren. Irgendwann lässt sich nicht
verdrängen, dass es sich eben um Inszenierungen handelt, dass ich nicht Reinhold Messner bin.
Dann ist die Enttäuschung umfassend, mit der Folge, dass die Gegenstände, kaum gekauft, in die
Ecke gestellt oder gleich entsorgt werden. Die Enttäuschung bereitet aber nur den Boden für ein
umso intensiveres Wünschen, für die Entstehung gänzlich neuer Träume und in der Folge neuer
Käufe usw..
Sehnsucht – Kauf – Desillusionierung – neuer Kauf: das ist das Muster, nach dem sich der
imaginäre Konsum entwickelt. Was das Handeln der Konsumenten antreibt, ist die Suche nach
Erlebnissen und ästhetischen Stimulierungen, und diese Suche birgt in sich die Tendenz zur
Unersättlichkeit. „Erlebnisorientierung“ – so formuliert es Gerhard Schulze – „wird zum
habitualisierten Hunger, der keine Befriedigung mehr zuläßt. Im Moment der Erfüllung entsteht
bereits die Frage, was denn als nächstes kommen soll, so dass sich Befriedigung gerade deshalb
nicht mehr einstellt, weil die Suche nach Befriedigung zur Gewohnheit geworden ist“ (Schulze
1993).
Bei der Analyse der Konsumdynamik stellen sich gleichwohl noch viele offene Fragen. Noch nicht
befriedigend geklärt ist vor allem, wie sich die erlebnisorientierte „Unersättlichkeit“ des einzelnen
Konsumenten in die Transformation von Konsummilieus übersetzt. Wie kommt es zum Entstehen
neuer Konsummilieus und zum Absterben alter? Welchen Anteil haben die Milieuforschung und die
Werbung selbst an der Erzeugung jener Milieus, die sie angeblich nur „beobachten“? Außerdem
müsste eine angemessene Theorie der Konsumdynamik in der Lage sein, nicht nur die
extrovertierten Seiten des Konsums zu erklären, sondern auch die introvertierten, negativen
Formen wie Geiz, Askese, die „Kunst des stilvollen Verarmens“, von denen in der Gegenwart immer mehr die Rede ist, auch bei Miegel und Paech. Nicht nur das Konsumverhalten, sondern auch sein Gegenteil, das Anlage- und Sparverhalten müsste in den Blick genommen werden. Das führt zu der schon angesprochenen Frage nach dem Zusammenhang zwischen Konsum, Lebensstilen und Geld. Wir hatten bereits gesehen, welche zentrale Rolle Geld für die Dynamisierung des positionalen Konsums und die Entfaltung der in ihm angelegten Paradoxien gespielt hat. Die Bedeutung des Geldes für den imaginären Konsum dagegen ist in der Forschung bis heute vergleichsweise unterbelichtet geblieben.
Dass man für den Erlebniskonsum Geld braucht, dass Geld eine unentbehrliche „Ressource“ ist, um
an dem Erlebniskonsum überhaupt teilnehmen zu können, dass der „Erlebnismarkt“ folglich auch
nach Zahlungsfähigkeit hierarchisiert ist – all das scheinen Binsenweisheiten zu sein. Aber die
Konsumsoziologie ist bis heute kaum über die Feststellung dieser Binsenweisheiten
hinausgekommen; für das Geld interessiert sie sich mit Ausnahme weniger Autoren im Grunde
überhaupt nicht. Ich möchte hier unter Rückgriff auf Georg Simmel die These vertreten, dass die
Beziehung zwischen Konsum und Geld nicht nur eine „äußere“ ist, wie die Konsumsoziologie es
sieht, sondern auch eine innere. Das heißt: Geld hat für den Konsum nicht nur die Bedeutung einer
externen Bedingung oder Restriktion; vielmehr lässt es die Konsumwünsche selbst erst entstehen.
Die ästhetisierenden Potenzen, die die Konsumforschung dem Konsum zuschreibt, wohnen
vielmehr dem Geld, genauer: der Vermögensnatur des Geldes selbst schon inne. Und wenn das
richtig ist, dann folgt daraus, dass der Erlebniskonsum und seine Unersättlichkeit nicht allein der
Psyche des individuellen Konsumenten entstammt, sondern vor dem strukturellen Hintergrund der
Vermögensnatur des Geldes verstanden werden muss. Diese These würde zugleich die Möglichkeit
eröffnen, Konsum- und Anlageverhalten, Konsum- und Finanzsphäre in einer integrierten
Perspektive zu analysieren.
Simmel (1989) beginnt seine berühmte „Philosophie des Geldes“ bekanntlich mit einer Erörterung
der Frage, wie es dazu kommt, dass wir den Dingen einen „Wert“ beimessen. Seine Antwort lautet:
Das Wertphänomen entsteht in einem „mittleren“ Zustand zwischen Haben und Nichthaben,
zwischen Besitzen und bloßem Vorstellen bzw. Anschauen; Simmel stellt hier eine Analogie mit
Platons Charakterisierung der Liebe als „mittlerer Zustand zwischen Haben und Nichthaben“ her.
Wertvoll ist ein Objekt weder dann, wenn es uns unerreichbar fern ist (wie z.B. der
Sternenhimmel), noch dann, wenn es sich unmittelbar in unserem Besitz befindet (wie mein Arm,
dessen Wert ich erst dann zu schätzen weiß, wenn ich ihn z.B. als Folge eines Unfalls verliere).
Entscheidend ist vielmehr, dass das Objekt uns erreichbar ist, ohne dass wir es direkt „haben“.
Genau dieser „mittlere Zustand“ wird nun, wie Simmel feststellt, durch das Geld hergestellt. Das
Geld bildet eine „höhere Potenz des Eigentumsbegriffs“, d.h. es bildet ein denkbar
allgemeines, sachlich, sozial, zeitlich unbestimmtes privates Eigentumsrecht. Mit Geld kann ich in
einer modernen Gesellschaft auf fast alles zugreifen: Nicht nur auf eine unermessliche Vielfalt
schon hergestellter Güter und Dienstleistungen, sondern auch auf Boden, Land, Arbeit als die
Voraussetzungen zu ihrer Herstellung und damit indirekt auch auf das, was mit diesen Mitteln
hergestellt werden könnte. Geld stellt mir die hergestellten oder herstellbaren Güter freilich nicht
als aktuellen, sondern nur als potentiellen Besitz zur Verfügung. Ich könnte zugreifen, muss es
aber nicht; die Knappheit des Geldes zwingt mich vielmehr, zu wählen und zu entscheiden. Indem
es diesen mittleren Zustand zwischen Haben und Nichthaben herstellt, bildet Geld nach Simmel
erst die Bedingung bzw. den Rahmen, in dem Güter überhaupt als wertvoll erscheinen können. Als
„wertvoll“ empfinden kann ich ein Gut nur, weil ich dafür zahlen muss.
Folglich leitet sich der Wert des Geldes – so die noch immer unter Ökonomen herrschende
Sichtweise – nicht etwa aus einem irgendwie marktextern gegebenen „Wert“ der Güter ab. Folgt
man der Simmel’schen Sichtweise, so ergibt sich der Wert der Güter vielmehr umgekehrt erst aus
dem Geld. Wichtig am Geld ist nicht nur, was ich konkret dafür erwerbe, sondern viel mehr noch,
was ich dafür erwerben könnte. Durch Kaufen lebe ich nur etwas aus, was in dem Geld an sich
schon angelegt ist. Dieses Erwerbenkönnen – Simmel spricht auch vom „Vermögenscharakter“ des
Geldes– ist etwas Anderes und mehr als das konkrete Erwerben und Besitzen; es gewinnt
einen Eigenwert als das, was den Dingen ihren Wert erst verleiht. Der Eigenwert bzw. der
Möglichkeitsraum des Geldes als solcher ist im Gegensatz zum relativen Wert niemals realisierbar
oder einlösbar, denn die Summe des Hergestellten und Herstellbaren, die sein Gegenstück bildet,
ist keine bestimmbare Größe. Zwar könnte ich auf alles zugreifen – wenn ich nur genug Geld hätte.
Aber ich habe nie genug.
Hinter der Unersättlichkeit des Konsums steht mithin noch eine andere Unersättlichkeit: die Begierde nach dem Geld selbst. Die „Unersättlichkeit“ des symbolischen Konsums ist – sieht man sie aus dieser Simmel’schen Perspektive – nichts anderes als die Folge eines „Abfärbens“ des Vermögenscharakters des Geldes auf die Güterwelt. Hinter der Vielfalt der Träume und Erlebnisse des modernen Konsumenten steht nichts anderes als der im Geldvermögen selbst angelegte Traum aller Träume: Wenn ich nur über genug Geld verfügte, kann ich alles, was die Menschheit kann; ich kann mir nicht nur alle Güter der Welt kaufen, sondern auch Bildung,Macht, Ansehen, Schönheit, Gesundheit …. Die vielen in der Lebensstilforschung beschriebenen milieuspezifischen Ausdifferenzierungen des Erlebniskonsums lassen sich als Abkömmlinge der einen, großen Utopie absoluten Reichtums begreifen. Überwältigt von ihr, stehen die Konsumenten vor der Herausforderung, sie mit ihrer Lebensrealität zu vermitteln. Nicht wenige Menschen sind dabei überfordert; sie scheitern und entwickeln pathologische Reaktionsweisen.
Georg Simmel unterscheidet extrovertierte und introvertierte Formen des Auslebens der Geldutopie. Die
erste Form fasst er in der Figur des „Verschwenders“, bei dem sich die Verabsolutierung
des Geldwerts in einer sinnlos erscheinenden Lust am Geldausgeben äußert. Der zweite Typus – Simmel nennt ihn die „geizige“ Form der Geldgier – ist in der Lage, gänzlich auf die sinnliche Rückkoppelung seiner Träumereien zu verzichten. Der Geizige ist durch die bloße Potentialität des Besitzens schon so
überwältigt, dass er sie über alles schätzt. Das berauschende Gefühl, was ich alles haben könnte,
geht ihm über jeden konkreten Besitz. Die Verabsolutierung des Geldwerts zeigt sich hier in dem
Widerstreben, das Geld überhaupt aus der Hand zu geben. Gegenüber Gütern bietet das Geld
überdies den Vorteil, enttäuschungsfest zu sein. Allerdings bezahlt der Geizige diesen Vorteil mit
dem nagenden Gefühl, nie genug Geld zu haben, und setzt sich damit unter einen dauernden
Akkumulations- und Vermehrungsdruck. Das Rauscherlebnis ist beim Geizigen das gleiche wie beim
Verschwender, mit dem Unterschied, dass der Verschwender noch auf eine Stimulierung der Sinne
durch Kaufhandlungen angewiesen bleibt, während der Geizige seinen Erlebnishöhepunkt gerade in
der bloßen Potentialität des Besitzens findet. Das Geld, das als reines Mittel erschien, wird in
beiden Fällen zum absoluten Zweck des Handelns, freilich in unterschiedlicher Weise.
Es gibt auch Konsumenten, die versuchen, beide Erlebnisweisen zu kombinieren, nach dem Prinzip „Geiz ist geil„: Man gibt Geld mit dem Ziel aus, möglichst viel davon zu behalten.
Mit Simmel lässt sich erklären, inwiefern hinter diesen auf den ersten Blick konträren Verhaltensweisen ein gemeinsamer Kern steckt: nämlich das Geldvermögen als Absolutum.
Folgerungen: Wer die Unersättlichkeit des Konsums kritisiert, kann vom Geld und der Gier nach ihm nicht schweigen. Es handelt sich primär um ein Problem der vermögenden, mittleren und oberen Schichten der Bevölkerung. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung auch in den entwickelten Ländern dagegen kann sich den symbolischen Konsum angesichts sinkender Realeinkommen gar nicht leisten; sie konsumiert nur materiell, d.h. eigentlich gar nicht. Es wäre absurd, wenn die heute kursierenden Sparappelle ausgerechnet die treffen würden, bei denen sich ohnehin nichts mehr einsparen lässt.
Wer den Wachstumszwängen des Kapitalismus auf den Grund gehen will, wird schon ein wenig
tiefer bohren müssen. Hinter der Unersättlichkeit des Konsums steht, wie ich zu zeigen versuchte,
mehr als nur als eine verquere „Psychologie“ der Konsumenten: die Vermögensform des Geldes als
genuin gesellschaftliche, Konsum und Produktion übergreifende Realität. Ohne eine subjektive und
objektive Entzauberung der Geldutopie, und das heißt: ohne eine institutionelle Begrenzung und
Einbindung geldgestützter privater Eigentumsansprüche wird eine vernünftige Selbstbegrenzung
des Konsums kaum gelingen können.