Blaise Pascale (1623-1662): Was ist das Ich?
„Ein Mensch setzt sich ans Fenster, um die Passanten zu betrachten; wenn ich nun dort vorbeikomme, kann ich da behaupten, er habe sich dort eigens aufgestellt, um mich zu sehen? Nein, denn er denkt nicht eigens an mich. Aber wer jemanden um seiner Schönheit willen liebt, liebt er ihn wirklich? Nein: denn die Pocken, welche diese Schönheit zerstören werden, ohne den Menschen zu töten, werden bewirken, dass er ihn nicht mehr lieben wird.
Und wenn man mich liebt wegen meiner Urteilskaraft, wegen meines Gedächtnisses, liebt man dann wirklich mich? Nein, denn ich kann diese Eigenschaften verlieren, ohne mich selbst zugrundezurichten. Wo liegt also dieses Ich, wenn es sich weder im Leib noch in der Seele befindet? Und wie kommt es, dass man den Leib oder die Seele höchstens um dieser Eigenschaften willen liebt, die keineswegs das Ich ausmachen, da sie ja vergänglich sind? Denn könnte man die Substanz der Seele eines Menschen in ihrer Wesenheit lieben ohne Rücksicht auf dessen Eigenschaften? Das ist nicht möglich und wäre ungerecht. Man liebt also niemals den Menschen, sondern immer nur Eigenschaften.
Man mache sich also nicht mehr lustig über die Leute, die sich wegen ihrer Ämter und Stellungen ehren lassen; denn man liebt einen Menschen nur um seiner entliehenen Eigenschaften willen.
Die Welt beurteilt die Dingen richtig, denn sie lebt in der natürlichen Unwissenheit, die die wahre Situation des Menschen ist. Jedes Wissen hat zwei Extreme, die sich berühren. Das einen ist die reine und natürliche Unwissenheit, in der sich alle Menschen bei der Geburt befinden. Das andere ist jene Unwissenheit, die die großen Seelen erreichen, wenn sie alles durchlaufen haben, ws die Menschen wissen können, und dann entdecken, dass sie nichts wissen und sich in der gleichen Unwissenheit wiederfinden, von der sie ausgegangen waren; aber das ist eine wissende Unwissenheit, die sich als solche erkennt. Diejenigen zwicshen beiden, die von der natürlichen Unwissenheit ausgingen und die andere nicht erreichen konnten, haben nur eine Art Firnis von diesem selbstgefälligen Wissen, spielen aber die Klugen. Sie verwirren die Welt und beurteilen alles verkehrt. Das Volk und die Wissenden bestimmen den Gang der Welt; jene Halbgebildeten verachten ihn und werden selbst verachtet. Sie beurteilen alle Dinge verkehrt, die Welt aber richtig.
(Aus: Blaise Pascale, Logik des Herzens. Gedanken; Übersetzt von Fritz Paepcke, dtv, 1973)
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