Die Kunst der Fuge, das ist in erster Linie ein Motiv von 12 Noten, eine kreisförmige Struktur, die einem Punkt entspringt und wieder dorthin zurückkehrt. Auf Anhieb scheint es, als sei alles gleichmäßig vollkommen, und alles gesagt. Doch plötzlich, entgegen aller Erwartung, beginnt diese Gleichmäßigkeit sich zu verzweigen wie ein Baum und nicht wie eine absichtlich geplante Architektur. Die Dynamik des Baums rührt vom Zusammentreffen des in seinem Keim steckenden vollkommenen Gleichgewichts her, auf das zahlreiche Zwischenfälle während seines Wachstums eingewirkt haben. Somit ändert sich in der Kunst der Fuge das Motiv – dieser perfekte Keim, windet sich, dehnt sich, zieht sich wieder zusammen, wendet sich, bekämpft feindliche Elemente und schafft sich unvermutete Verbündete. Hier regiert das Unerwartete.
In der Tat, was ist weniger vorauszusehen als die beiden Pausen, die gegen Ende die hart geführte Rede der ersten Fuge unterbrechen? Und jedes Stück dieser Sammlung könnte ähnliche Beispiele anführen. Es scheint, als würde Bach jegliches System ablehnen. Für ihn ist die Fuge das auserwählte Land der Freiheit.
Zwar folgt jede seiner Fugen zu Beginn einem ganz bestimmten System, aber dieses System steht nicht für sich selbst da, und Bach empfindet immer wieder Vergnügen daran, es so oder so durcheinanderzubringen. Hier, wie im Leben, sorgen Begegnungen und Ereignisse dafür, die sorgfältig festgelegten Pläne zu verändern und uns so ungeahnte Möglichkeiten zu eröffnen. Die Interpretation sowie das Hören eines solchen Werkes ist ein Abenteuer, ein Spaziergang durch eine Landschaft, die auf ihre Geheimnisse bedacht ist. Wer sich damit begnügt, nur mit halbem Ohr hinzuhören, wird bloß Unruhe und Langeweile heraushören. Wer es aber wagt, auf den schmalen Pfaden dieses Forstes zu wandeln, wer sich träumend vor einen seiner Bäume setzt, der wird manche Überraschung erleben.
Louis Thiry
(* 1935 Nancy, Organist und Komponist in Rouen; Übersetzung von Gisela Grosselin)