Ein Radprofi, der das Zeug hatte, der neue Eddy Merckx zu werden. Eine Prostituierte, ohne Träume. Eine Nacht, in der sich die Lebenswege der beiden Menschen in einem senegalesischen Hotel kreuzen. Dimitri Verhulst hat mit „Monolog einer Frau, die in die Gewohnheit verfiel, mit sich selbst zu reden“ ein literarisches Kleinod vorgelegt.
Belgien ist ein Land der Radsport-Verrückten. Der fünfmalige Tour-de-France-Sieger Eddy Merckx ist daran nicht ganz unschuldig. Doch die größten Erfolge unter seinen mehr als 500 Siegen liegen bereits rund 20 Jahre zurück, als Belgien einen neuen Radstar feiert: Frank Vandenbroucke, kurz „VdB“. Sein Stern geht bereits Anfang der 1990er als Junior auf: Belgischer Meister und Dritter bei der Straßenrad-Weltmeisterschaft. Mit 19 schließt er sich einem Profiteam an, in dem sein Onkel der sportliche Leiter und sein Vater der Mechaniker ist. Seine Erfolge geben den Kennern recht: Als er in den nächsten Jahren für den Rennstall Mapei fährt, sammelt er Etappensiege und Gesamtsiege. Er sichert sich beispielsweise die Österreich-Rundfahrt. Er triumphiert bei Paris-Nizza und Gent-Wevelgem. Rennen, bei denen Radsport-Liebhaber das Herz aufgeht. 1999 folgen im Cofidis-Trikot Siege bei Het Volk und Lüttich-Bastogne-Lüttich. VdB ist die neue Lichtgestalt des belgischen Radsports. Allerdings wird Lüttich-Bastogne-Lüttich für immer sein größter Triumph bleiben wird. VdB schmückt längst die Titelseiten nicht nur der belgischen Gazetten. Die Frau an seiner Seite heißt Sarah Pinacci, ein italienisches Model. Nur seine irrsinnige Liebe zu ihr, heißt es, hätte ihn zum Sieg bei Lüttich-Bastogne-Lüttich geführt. Wenige Monate später, schreibt die Boulevardpresse, hätte sie ihn zum Weltmeister machen können. Aber Vandenbroucke stürzt. Mit zwei gebrochenen Handgelenken schafft er es „nur“ auf Platz 7. Ein Medikamentencocktail hilft ihm dabei. Die sportliche wird zur persönlichen Tragödie. Skandal folgt auf Skandal. Doping, Drogen, Hausdurchsuchung, Scheidung. Die Negativschlagzeilen reißen nicht ab: ein leergeschossener Revolver, ein missglückter Selbstmordversuch.
Im Oktober 2009 wird VdB im Zimmer eines heruntergekommenen Hotels in einer senegalesischen Stadt tot aufgefunden. Die Todesursache lautet Lungenembolie. Die Autopsie bestätigt das. Dazu wird ein Herzfehler durch jahrelangen Drogenkonsum diagnostiziert.
Dimitri Verhulst (Buchvorlage für Problemskihotel; siehe hier unter Splitter) hat sich der letzten Nacht VdBs angenommen. Herausgekommen ist eine preisgekrönte Novelle auf 94 Seiten, die laut Verhulst erst als Theatermonolog angelegt war, dann aber erst einmal wegen der Kürze in seiner Schreibtischschublade verschwand. Erst der Beharrlichkeit seines Lektors ist es zu verdanken, dass „die letzte Nacht“ unter dem Titel „Monolog einer Frau, die in die Gewohnheit verfiel, mit sich selbst zu reden“ auf den Markt kam. Dem Verlag Covadonga ist es zu verdanken, dass nun mehr eine deutsche Übersetzung vorliegt. Die Besonderheit an Verhulsts „Monolog …“ besteht darin, dass er die letzten Stunden in Vandenbrouckes Leben – der im Buch Jens De Gendt heißt – aus den Augen und mit den Worten der senegalesischen Prostituierten Seynabou schildert. Sie lernt den Radstar als Tourist in einer Disco kennen, ohne zu wissen, wer er ist: „Er ging wie jemand, der es gewohnt ist, Blicke auf sich zu ziehen. Ein Mann mit natürlicher Gravitation. Wo er hereinkam, änderten sich alle Konstellationen.“
Seynabou verspricht sich eine nette Nacht. Nach ein paar Stunden mit De Gendt glaubt sie sogar an die große Liebe, obwohl sie weiß, wie lächerlich diese Vorstellung ist. Als De Gendt dann nach einem Abstecher auf sein Hotelzimmer zu Seynabou zurückkehrt, ist er wie ausgewechselt. Seine Augen sind wie „tote Seen“. Sein natürlicher Charme ist verflogen. Er ist aggressiv, fast schon paranoid. Sie lässt ihn allein zurück, ohne zu wissen, dass sie einen Todgeweihten verlässt und sie selbst später unter Tatverdacht steht und im Gefängnis landet:“Träumen verboten!“
Verhulsts Idee, die junge Senegalesin zur Hauptperson in dieser letzten Nacht des Radrennfahrers zu machen, ist schlicht und einfach grandios. Als Leser hängt man Seynabou an den Lippen, als sie ihren „Monolog“ erzählt, wie sie später noch einmal in diesem Zimmer steht, in dem ihr Leben eine tragische Wendung nahm. Ihre zugleich naive wie liebenswerte Sicht der Dinge ist es, die den Leser fesselt. Ein wenig Zynismus, Wortwitz und anrührende Traurigkeit – das alles zusammen machen Verhulsts „Monolog …“ zu einem wahren literarischen Kleinod. Das beweist auch die jüngste Nominierung für die „Hotlist 2013“, dem Buchpreis der unabhängigen Verlage.
Frei nach Thomas Badtke, ntv, 14.07.13